von Marcel Haldenwang
Jonas Erne hat mich gebeten, anlässlich des 40. Todestages von Francis A. Schaeffer mit wenigen Worten darzulegen, was Schaeffer für mich persönlich bedeutet.
Man muss nicht alle seine ideengeschichtlichen Linien für plausibel halten – und sicher hat er hier und da bei seinen geistesgeschichtlichen Bezügen zumindest „didaktisch reduziert“, vielleicht auch unzulässig vereinfacht –, man muss auch den Verlust des gesellschaftlichen Einflusses durch Christen nicht wie er bedauern, aber eines ist für mich klar: Schaeffer hat wie kein Zweiter die Anfechtungen der Gläubigen durch das post-christliche Zeitalter und die Postmoderne vorweggenommen und darunter gelitten. Und ich verdanke Schaeffer an zwei Stellen meiner geistlichen Biografie entscheidende Impulse.
Der Bitte von Jonas komme ich daher gern nach und habe Schaeffer zu Ehren bereits vor einigen Jahren meinen Youtube-Kanal nach seinem Bestseller „Gott ist keine Illusion“ benannt.
Wir schreiben das Jahr 2017: Francis A. Schaeffer und die Gesetzlichkeit
Schon länger litt ich an der gesetzlichen Verengung meiner Glaubensgemeinschaft und Ortsgemeinde. Vergeblich hatte ich seit langer Zeit für das Thema zu sensibilisieren versucht. Doch Anachronismen wie die nach Geschlechtern getrennte Sitzordnung wurden verteidigt, als ginge es darum, die Jungfrauengeburt oder leibliche Auferstehung Jesu zu verteidigen. 2017 versuchte ich meinem Anliegen durch ein mehrseitiges Essay zum Thema Gehör zu verschaffen, blieb aber, wie es schien, unerhört. Schließlich sah ich mich genötigt, mit meiner Familie in der fünften (!) Generation meine Glaubensgemeinschaft und Ortsgemeinde zu verlassen. Damit einher gingen, wie ihr euch vorstellen könnt, der Verlust meiner Haltegruppe sowie Anfechtungen, ob meine Analyse richtig gewesen oder ob ich übers Ziel hinausgeschossen war.
Ich verschlang viele Bücher zum Thema und stieß dann bei Francis A. Schaeffer in bereits genanntem Buch auf einen Brief, den ein Student an Schaeffer gerichtet hatte. Darin schreibt der Student, dass seines Erachtens viele junge Leute aus frommen Familien in die Fänge der liberalen Theologie geraten seien, weil man sie nicht darüber aufgeklärt habe, was die absoluten Maßstäbe des Wortes Gottes und was lediglich Überbleibsel aus der Zeit des Viktorianismus seien. So hätten seine Kommilitonen geglaubt, die kleinbürgerlichen Normen und den Viktorianismus nur hinter sich lassen zu können, wenn sie auch die absoluten Maßstäbe des Wortes Gottes aufgäben und die Orthodoxie verließen. Schaeffer mahnt im Anschluss an diesen Brief seine Leser eindringlich, das Haus aufzuräumen statt es niederzubrennen. Diese Metapher traf mich wie der Blitz, und mir fiel es wie Schuppen von den Augen: Hatte ich nicht genau diesen Aufruf vernommen und versucht das Haus meiner Glaubensgemeinschaft aufzuräumen, damit es die nachrückende, akademisch gebildete Jugend nicht eines Tages niederreißen würde? Hatte ich nicht versucht zu sortieren, was bloße Tradition und durchaus veränderbar sein könnte und welche Überzeugungen und Lehrauffassungen zu den unveränderlichen Wahrheiten eines unwandelbaren Gottes gehörten?
Einige Zeit später stieß ich auf das Buch „Kirche am Ende des 20. Jahrhunderts“, wo Schaeffer unter der Überschrift „Freiheit und Form“ seine Gedanken zum Thema exzellent weiter entfaltet:
Es gibt Form, und es gibt Freiheit. … Worum es mir in erster Linie geht, während wir dem Ende des 20. Jahrhunderts zugehen, ist einerseits, dass die … Kirche einen festen Platz hat und dass sie die Form einhalten sollte, die Gott geboten hat, dass uns aber anderseits ein weiter Spielraum für Veränderungen bleibt. Ich behaupte, dass wir Menschen nur mit eindeutigen Geboten der Schrift moralisch binden dürfen (dass wir darüber hinaus nur Ratschläge geben dürfen), dass wir ebenso in allen Bereichen, in denen das Neue Testament der Kirche keine Form vorschreibt, Freiheit genießen, die wir unter der Leitung des Heiligen Geistes ausüben sollen, um unserer besonderen Zeit und unserem speziellen Ort gerecht zu werden. … Mit anderen Worten: Das Neue Testament steckt gewisse Grenzen ab, aber innerhalb dieser Grenzen gibt es genügend Freiheit, sodass wir uns verschiedenen Orten und verschiedenen Zeitaltern anpassen können. … Wir müssen reden, wo die Schrift geredet hat. Wir müssen aber beachten, dass wir ebenfalls ihr Schweigen respektieren müssen. Innerhalb jeder Form gibt es Freiheit. … Gott hätte ja der Apostelgeschichte noch ein Kapitel anfügen und viel mehr Einzelheiten mitteilen können. Er hat es nicht getan. Und wir können doch nicht sagen, dass sich die Bibel irrt. Wir müssen glauben, dass nicht nur das, was uns gesagt ist, nach Gottes Willen und Inspiration letzte Gültigkeit besitzt, sondern auch, dass wir da, wo Gott schweigt, unter der Leitung des Heiligen Geistes Freiheit haben. Wenn die Kirche in einer sich wandelnden Zeit von ihrer Freiheit Gebrauch macht, dann wird es Kirchen geben, bis Jesus wiederkommt. Aber wir dürfen nicht zufällige historische Umstände oder behagliche soziologische Gegebenheiten aus der Vergangenheit mit Gottes absoluten Werten gleichsetzen, … Ist es nicht so, dass wir bibelgläubigen [sic] Christen oft gerade dann nicht mehr bibelgläubig sind, wenn wir soziologische Verhältnisse mit Gottes absoluten Werten gleichsetzen? Und ich bin überzeugt, dass das viele von euch unentwegt tun. Dadurch entsteht der Geruch der Verwesung, über den sich so viele Leute beklagen. Die ist die Wurzel eines großen Teils der Verwirrung in unseren christlichen Schulen und Kirchen: Man sieht nicht den Unterschied zwischen Gottes absoluten Werten und jenen Dingen, die lediglich ein Produkt historischer Zufälle sind. Ich habe den Vorteil, dass ich in vielen Ländern arbeite und gesehen habe, dass gottesfürchtige Menschen durch historische Gegebenheiten zu völlig unterschiedlichen Formen der Kirche geführt worden sind. Dasselbe gilt für verschiedenen Zeiten. Es hat Zeiten gegeben – besonders z. B. die Anfangszeit des Christentums –, in denen sich die Gemeinde nur in Privathäusern versammelte. Wer sich von Ihnen heute in einem schönen Kirchengebäude versammeln kann, der sollte Gott danken, dass Gott der Gemeinde entsprechend ihrer [sic] Bedürfnisse ein solches Gebäude geschenkt hat. Dieses Gebäude dürfen sie aber nicht mit einem absoluten Wert verwechseln. Verwechseln Sie nicht die Kirche mit einem Kirchengebäude. Das mag bis auf die Grundmauern niederbrennen. Aber die Zerstörung des Gebäudes zerstört nicht die Kirche. Es gab eine Zeit, in der sich die Kirche im Haus von Priska und Aquila versammelte. War diese Kirche deshalb weniger wert? Natürlich nicht. Aber das zeigt doch nur, dass der Heilige Geist zu verschiedenen Zeiten frei ist, verschieden zu führen. … Wir haben also Form und Freiheit. … Die Kirche soll bestehen, bis Jesus wiederkommt. Aber es muss ein Gleichgewicht zwischen Form und Freiheit geben, sowohl im Bereich der Gemeindeordnung, [sic] als auch in der praktizierten Gemeinschaft innerhalb der Kirche. Und es muss Freiheit unter der Leitung des Heiligen Geistes geben, das zu verändern, was verändert werden muss, damit die Kirche an ihrem Ort und zu ihrer Zeit veränderten Situationen gerecht werden kann. Andernfalls, glaube ich, wird die Kirche nicht als lebendige Kirche weiterbestehen können. Dann werden wir verknöchern und Christus aus der Kirche ausschließen. Dann werden seine Herrschaft und die Leitung des Heiligen Geistes leere Worte werden. Wir wollen dankbar sein, dass die Bibel uns eine bestimmte Form nennt. Dann müssen wir aber auch sorgfältig darüber wachen, dass wir uns nicht an unbiblische Formen binden, an Formen, die uns eine liebe Gewohnheit geworden sind, die aber in der Kirche des Herrn Jesus Christus keinen absoluten Rang haben. Abgesehen von den eindeutig festliegenden biblischen Normen, [sic] ist in der Ordnung und Arbeit der Kirche jede andere Einzelheit offengelassen, sodass sich die Kinder Gottes unter der Leitung des Heiligen Geistes darüber einigen können.
Spätestens nach der Lektüre dieser Passagen war ich gewiss: Mein Dienst war zwar abgelehnt worden, aber mein Ansinnen hatte das Wohlwollen meines Herrn gefunden; wir waren nicht auf Abwegen und Gott würde uns als Familie nicht allein lassen auf der Suche nach einer neuen geistlichen Heimat!
Wir schreiben das Jahr 2022: Francis A. Schaeffer und die liberale Theologie
Die fanden wir dann auch nach einer mühsamen Odyssee durch unterschiedliche Gemeinden auf der Suche nach einer bibeltreuen. Die Geschwister einer „freien Brüdergemeinde“ in der Nachbarstadt nahmen uns schließlich herzlich auf, vertrauten uns schon bald verantwortungsvolle Aufgaben an, und mit Siegfried L. wurde mir ein echter väterlicher Freund und Vater in Christo geschenkt. Durch ihn wurden wir auch mit der Arbeit des Gideonbundes bekannt gemacht und schon bald Gideon-Mitglieder und Truckermissionare – ein Dienst, der mir schon lange am Herzen gelegen hatte, den ich aber auf eigene Faust nicht zu beginnen gewagt hatte.
Leider machte der geistliche Kampf auch in der neuen Glaubensgemeinschaft nicht lange Pause. Wir hatten uns gerade von der zurückliegenden Kontroverse um die (mutmaßliche) gesetzliche Verengung und dem Verlust unserer geistlichen Heimat erholt, als zur Dillenburger Konferenz der neuen Glaubensgemeinschaft im Jahr 2022 ein Gastreferent geladen wurde, der – akademisch verbrämt, aber unübersehbar – den Sühnungstod Jesu relativierte. Auch jetzt, beim Kampf an der entgegengesetzten Front, wo es dem Einbruch der liberalen Theologie zu wehren galt, war ich angesichts heftiger Gegenrede bisweilen verzagt und mir unsicher, ob ich ein Mandat Jesu besaß für diesen Kampf.
Da stieß ich beim Lesen einer Spurgeon-Biografie mit dem Titel „Spurgeon, wie ihn keiner kennt“ auf die von ihm mit seinem Baptistenbund ausgefochtene Downgrade-Kontroverse, bei der es auch bereits um den Einbruch von Bibelkritik, Allversöhnung und der Leugnung des Sühnungstodes ging. Ich sah sofort manche Parallelen zu den „Freien Brüdern“, die zunehmend offensichtlich auch keine Probleme damit hatten, mit Leuten zusammenzuarbeiten, die bibelkritisch oder allversöhnlich waren oder gar den Sühnungstod Jesu relativierten. Ein Freund, der darum wusste, in welch schwerer See ich gerade unterwegs war, schrieb mir, dass auch Schaeffer bei seiner Auseinandersetzung mit solchen Angriffen auf den Kern des christlichen Glaubens Anleihen genommen hatte bei der Downgrade-Kontroverse. Die Tonaufnahmen, auf die er mich verwies, waren mir im Jahr 2022 eine große Hilfe und geistliche Stärkung.
Mir gab zu denken, wenn auch Schaeffer sagt,
– dass der Konflikt ein alter ist und anhalten wird bis zur Wiederkunft Jesu,
– dass auch renommierte Namen vor Verführung nicht schützen,
– dass viele entgegen ihrer Erkenntnis in unseligen Jochgemeinschaften verbleiben,
– dass gemeinsame Evangelisation oft das Einfallstor für kompromittierende theologische Jochgemeinschaft ist,
– dass das Ringen um Reinheit der sichtbaren Kirche es evtl. erfordert, eine liebgewonnene Glaubensgemeinschaft zu verlassen,
– oder dass Kompromisse die nächste Generation in Gefahr bringen u. v. a. m.
Ich fühlte mich durch Schaeffer und Spurgeon gewissensmäßig vor die Wahl gestellt, in eine Gemeinde zu gehen, wo man ungestraft Gemeinschaft haben darf mit Leuten, die Fragen der Kategorie 1 (Sühnungstod) relativieren, oder aber in eine Gemeinde zurückzukehren, die wir 2017 verlassen hatten, weil wir glaubten, dass dort unwichtigen Gewissensfragen ein zu hoher Stellenwert eingeräumt wurde. Wir kamen zu dem Entschluss, dass die Gemeinde vorzuziehen ist, wo man sensibel dafür ist, dass auch Verbindung mit Irrlehre beschmutzt. Meine Frau und ich kehrten daher Anfang 2023 nach großen geistlichen Kämpfen in unsere vormalige Glaubensgemeinschaft zurück; Corona hatte zumindest in Bezug auf die Sitzordnung zu einer Auflockerung der anachronistischen Form geführt.
Wir schreiben das Jahr 2023: Francis A. Schaeffer und die heutigen Bibelschulen
Erst in den vergangenen Herbstferien las ich Schaeffers letztes Buch, das er – bereits schwer gezeichnet von seiner Krebserkrankung – in dem Jahr herausbrachte, das sein Todesjahr sein würde: „Die große Anpassung. Der Zeitgeist und die Evangelikalen“.
Abermals stellt Schaeffer präzise und mit Verve heraus, wie entscheidend das Schriftverständnis ist – für ihn neben der Haltung zum Lebensschutz einer der beiden Lackmustests für Bibeltreue –, um als Christ dem Druck des Zeitgeistes etwas entgegenzusetzen.
Als tragisch empfinde ich, dass Stephan Holthaus (zusammen mit dem geschätzten Historiker Lutz von Padberg) noch im Vorwort schrieb:
Die Bibelfrage bleibt die Wasserscheide. Sie wird den weiteren Weg der Evangelikalen bestimmen. Werden sie den Weg vieler Institutionen und Werke gehen, die einflussreich und bibeltreu anfingen, aber bedeutungslos und liberal endeten, oder lassen sie sich zurückrufen zur Irrtumslosigkeit der ganzen Schrift, mit dem sie begannen und das ihnen ihre Existenzberechtigung gab gegenüber allen Ideologien und Theologien unserer Tage?
Die FTH Gießen ist mit ihrer Bibelkritik im Gewand der Bibeltreue und v. a. Armin Baums Hermeneutik leider in genau die Falle der kulturellen Relativierung von Gottes Wort getappt, vor der Schaeffer so hellsichtig gewarnt hatte (vgl. u. a. S. 71).
Fazit: Francis A. Schaeffer und der „christliche Realismus“
Wie man Gemeinde in die Gegenwart transformiert, sodass die inhaltliche Substanz erhalten bleibt, aber glaubensferne Menschen und Christen anderer Prägung auf der Suche nach einer bibeltreuen Gemeinde nicht abgeschreckt werden durch Äußerlichkeiten, treibt mich nach wie vor existentiell um. Francis A. Schaeffer war mir bei diesem Ringen in den vergangenen Jahren sieben Jahren eine große Hilfe. Schaeffer ist mir auch deswegen zu einem großen Glaubensvorbild geworden, weil er nicht nur um Orthodoxie, sondern auch um „Orthopraxis“ rang; ihm war klar, dass Bibeltreue nur dann glaubwürdig vertreten wird, wenn ihre Adepten auch ein Leben in der Nachfolge Jesu führen.
Dabei war er sich der Gefahr bewusst, in der jeder christliche Apologet steht: Man kann in seinem Eifer für die biblische Wahrheit übers Ziel hinausschießen und in die Falle des Rigorismus tappen oder man kann dem Anpassungsdruck nachgeben und faule Kompromisse eingehen. Bemerkenswert finde ich daher, wie er unter der Überschrift „christlicher Realismus“ beiden Reaktionsweisen auf die Beliebigkeit der Postmoderne entgegentritt. Diesen Rat möchte ich uns anlässlich seines 40. Todestages abschließend in Erinnerung rufen:
[Wir brauchen] jeden Tag die Hilfe des Sohnes Gottes, denn aus eigener Kraft schaffen wir es nicht. Wir müssen ihn seine Furcht in uns wirken lassen. Wir können in unserer alten Natur Orthodoxie verkünden, und wir können in unserer alten Natur faule Kompromisse schließen. Unser Auftrag lautet jedoch ganz anders: Wir sollen mit Gottes Hilfe in unserer Generation Gott und sein Wesen sichtbar machen. An uns soll sich zeigen, dass er ein persönlicher, heiliger und liebender Gott ist. Unserer alten Natur nach können wir entweder rechtgläubig oder liebevoll und kompromissbereit sein. Eines aber können wir in unserer alten Natur nicht – wir können nicht gleichzeitig Gottes Gerechtigkeit und Liebe in unserem Leben sichtbar machen: das ist nur durch das Wirken des Heiligen Geistes möglich. Alles aber, was weniger darstellt, ist nicht Abbild Gottes, sondern eine Karikatur Gottes, der existiert.