Epstein, David, Range – How Generalists Triumph in a Specialized World, Macmillan Verlag, 2019, Amazon-Link
In einer kürzlichen Coaching-Session wurde ich auf das Buch des amerikanischen Journalisten David Epstein aufmerksam gemacht. Es ist gerade für Menschen wie mich, die von sehr vielen Interessen, Ideen und Projekten angezogen sind, sehr interessant und aufschlussreich.
Zu Beginn vergleicht Epstein zwei verschiedene Arten, wie Menschen aufwachsen und lernen können. Er zieht dafür die Biographien zweier Sportler heran, die unterschiedlicher nicht hätten sein können: Tiger Woods und Roger Federer. Während der Golfer Woods von jüngsten Jahren an von seinen Eltern zum Golfen gedrängt wurde, war Roger Federer als Kind nebst Tennis auch beim Fußball aktiv und erfolgreich. Erst als Teenager entschied er sich ganz für den einen Sport, in welchem er es bis an die Weltspitze brachte.
Das ganze Buch hindurch ziehen sich Geschichten, Biographien, Studien. Und da muss ich sagen: Es ist mir etwas zu amerikanisch. Der Versuch, durch eine Vielzahl von Stories eine breitere Leserschaft zu finden, ist typisch für viele amerikanische Autoren. Ich denke da immer: „weniger ist mehr“, denn der rote Faden geht in all den Geschichten immer wieder verloren.
Sehr spannend fand ich, dass die Arbeit von Daniel Kahneman, mit welcher ich mich vor ein paar Jahren bereits beschäftigte, mehrfach aufgegriffen wurde. Kahneman befasst sich viel mit den Ungewissheiten, die eine Entscheidungsfindung in offenen Systemen erschweren. Spezialisten sind gut bei Aufgaben, die ein relativ geschlossenes System voraussetzen. Etwa Schach hat ein geschlossenes System von Regeln, die immer gleich sind. Ein Schachcomputer kann Millionen von Schritten berechnen und aufgrund von bisherigen Schachspielen mit einigermaßen großem Erfolg vorausberechnen, was ein menschlicher Gegner wahrscheinlich als Nächstes tun wird. Schachspezialisten können das auf eine ähnliche Weise, doch nicht indem sie vorausberechnen, sondern indem sie das Schachbrett im Kopf in eine Reihe von kleineren Einheiten unterteilen und durch ihre Erfahrung intuitiv ähnlich genau vorhersagen, wohin das Spiel in den nächsten Zügen führt.
Die meisten Aufgaben in unserer Realität sind jedoch offene Systeme, sie haben keine geschlossene Anzahl von Regeln, sondern sind komplexer. Und hier brilliert Epstein in seinem Buch. Er zeigt, dass es gerade für diese Aufgaben immer mehr Generalisten braucht, die sich in ihrem Leben nicht nur auf eine Sache spezialisiert haben, sondern immer wieder Umwege gegangen sind, manchmal auch gehen mussten. Alle neu erlernten Fähigkeiten machen sie besser vorbereitet auf Aufgaben, die komplexer sind.
Spezialisten werden immer wichtig bleiben. Sie sind es, welche Lösungen umsetzen. Sie sind es, welche Geräte herstellen und optimieren. Aber in einer Zeit, in welcher man sich immer mehr mit Problemen in der Realität offener Systeme befassen muss, werden Spezialisten weniger häufig gebraucht. Ich möchte an der Stelle noch etwas zum Buch hinzufügen. Die letzten Jahre haben mir zwei Dinge gezeigt, die sich gerade verändern, die uns noch schneller von der großen Menge an Spezialisten wegführen. Epstein schrieb das Buch 2019, also vor etwa vier bis fünf Jahren. In den vergangenen zwei Jahren hat sich gezeigt, dass Maschinen inzwischen viel Arbeit von Spezialisten übernehmen können. Die weitere Entwicklung von GPT und ähnlichen Programmen sowie in der Welt der Robotik wird sich noch sehr viel tun, was unsere Welt, Berufe, unser Selbstverständnis als Menschen verändern wird. Viele Arbeiten von Spezialisten können nach und nach automatisiert werden und bedürfen lediglich noch menschlicher Begleitung und Überwachung.
Das Zweite, was sich gezeigt hat, ist aber auch, dass wir in einer Welt der Small Data leben. Künstliche Intelligenz, aber auch die Spezialisierung von Spezialisten ist jedoch stark auf Big Data angelegt. Big Data heißt, es gibt sehr viele ähnliche Fälle, die man vergleichen, zusammenrechnen und immer wieder den Durchschnitt findet, während jeder neue Durchschnitt näher an die Wirklichkeit führt. Wir haben uns allzu lange in einem Big-Data-Universum gefühlt.
Doch sei es in der Medizin, bei der Anamnese von Krankheiten oder auf der Straße, wo der Traum vom autonomen Fahren immer weiter davonfliegt: Die Realität ist Small Data, jeder Fall muss einzeln geprüft, abgewägt, reagiert werden. Der Mensch – und speziell noch der Generalist im Besonderen – ist ein Small-Data-Wesen, das für eine Small-Data-Wirklichkeit geschaffen wurde.
Noch einmal zurück zum Buch. Ich möchte mit einem von vielen Beispielen, die man im Buch nachlesen kann, schließen. Der Autor beschreibt eine Studie, die gemacht wurde, in welcher Comic-Autoren verglichen wurden. Interessant dabei ist, dass Autoren umso erfolgreicher darin sind, Comic-Charaktere zu entwerfen, in je mehr verschiedenen Genres sie sich schon probiert haben. Spezialisten für eine ganz bestimmte Art von Comics sind am wenigsten wahrscheinlich erfolgreich.
Ich kann das Buch sehr empfehlen und gebe ihm 4,5 von 5 Sternen.