In den vergangenen Wochen habe ich mich mit Jordan B. Petersons Buch „12 Rules for Life“ beschäftigt, und bereits hier und hier darüber gebloggt. Heute kommt der dritte und vorläufig letzte Teil meiner Kritik an Petersons Weltanschauung. In einem weiteren Post möchte ich noch darauf eingehen, was wir von ihm lernen können und wie wir mit seinem Hype umgehen (dies könnte aus Gründen der Länge auch Teil 5 werden).
Jordan Peterson ist Psychologe, und unter den verschiedenen Strömungen der modernen Psychologie ist er unter die Jungianer zu zählen, zu den Jüngern von Carl Gustav Jung, der die sog. „Analytische Psychologie“ begründet hat. Diese Strömung geht vom Begriff der Archetypen aus. Dieses Wort bedeutet „Urformen“ und meint folgendes Konzept: In jedem Menschen stecken von Geburt an bestimmte Vorbilder, Erwartungen, Vorstellungen, und so weiter. Diese ganzen Komplexe nennt der Jungianer einen Archetypen. Beispiel: Ein Kind, das zur Welt kommt, erwartet eine einzelne Bezugsperson, den Archetypen, den man in unserer Kultur „Mutter“ nennt, und verknüpft damit bestimmte Erwartungen. Wenn diese unbewussten Erwartungen nicht erfüllt werden, dann entstehen daraus psychische Defizite, die dann krankhaft werden können. Diese Archetypen sind laut Jung in allen Kulturen und zu allen Zeiten dieselben, und deshalb studiert Peterson alle möglichen alten Kulturen, Schriften der alten Religionen, Märchen, und so weiter.
Kurz gesagt: Für Peterson ist die Bibel nicht mehr als eine Sammlung von alter Weisheit, die man je nach Lust und Laune zur Begründung eigener Positionen ausschlachten kann. Hier müssen wir uns auch mal kritisch fragen: Kann es sein, dass wir in der evangelikalen Welt uns schon so sehr daran gewöhnt haben, dass dies ständig passiert, dass es uns gar nicht mehr auffällt? Kann es sein, dass manche von uns auch so vorgehen, wenn es um geliebte Positionen geht? Kann es sein, dass wir die Bibel, die wir immerzu zu verteidigen glauben, in Wirklichkeit auch wie ein Märchenbuch behandeln? So als wären es Stories mit einem wahren Kern, aber es unwichtig ist, ob es tatsächlich so stattgefunden hat?
Als ich das Buch „12 Rules for Life“ las, haben mich zwei Fragen eine ganze Weile umgetrieben, und dies ist auch der Grund, weshalb ich diesen Post erst jetzt schreiben kann und will. Die erste Frage: Glaubt Jordan B. Peterson an (einen) Gott? Diese Frage ist nicht ganz leicht zu beantworten, denn die Rhetorik seines Buches ist ganz schön raffiniert. Zu Beginn führt er aus, dass jede Art von Nihilismus zum Chaos führt. Somit will er sich wohl nicht als Nihilisten betrachten. Gegen Ende des Buches schreibt er: „When tempted by the Devil himself, in the desert—as we saw in Rule 7 (Pursue what is meaningful [not what is expedient])—even Christ Himself was not willing to call upon his Father for a favour; furthermore, every day, the prayers of desperate people go unanswered. But maybe this is because the questions they contain are not phrased in the proper manner. Perhaps it’s not reasonable to ask God to break the rules of physics every time we fall by the wayside or make a serious error. Perhaps, in such times, you can’t put the cart before the horse and simply wish for your problem to be solved in some magical manner. Perhaps you could ask, instead, what you might have to do right now to increase your resolve, buttress your character, and find the strength to go on. Perhaps you could instead ask to see the truth.“ (Kindle-Position 6428ff) Und auch zwischendurch finden sich bei ihm häufig Zitate und Anspielungen aus der Bibel, die den Leser im ersten Moment glauben machen könnten, dass Peterson doch irgendwie ein verkappter Christ sei. Das ist letzten Endes alles feinste Rhetorik. Peterson möchte bewusst ein Brückenbauer für gläubige und ungläubige Menschen sein. Es ist edel, dass er das sein möchte, doch in der Praxis ist jeder solche Versuch wertlos und zum Scheitern verurteilt.
Das Problem mit diesem Ansatz ist, dass er sich selbst widerspricht. Eine seiner Regeln lautet: „Be precise in your speech“, also: Sei genau in deiner Sprache. Er selbst ist dabei sehr ungenau, um möglichst alle Leser anzusprechen. Er bezieht zu der Frage nicht nur keine Stellung im Buch, sondern spiegelt vielmehr noch eine Entwicklung vor, die es bei ihm nicht gibt. Rhetorisch brillant geschrieben könnte man den Eindruck bekommen, dass Peterson im Laufe des Buches überzeugter vom Glauben wird – doch wer genauer hinsieht, wird feststellen, dass ein agnostischer Leser den Text genauso gut anders lesen und verstehen kann und ihn dann so deutet, dass Peterson nur vom Leben an und für sich spricht, nicht von einem persönlichen Gott. Und die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass der Agnostiker oder Atheist mit seiner Lesart recht behält. Peterson arbeitet gegen seine Regeln und vergrößert ihm selbst zufolge somit das Chaos. Schade um den blinden Blindenführer und um alle, die sich seiner Führung anvertrauen. Wer sich auf ihn verlässt, ist verlassen.
Wie geht Peterson mit der Bibel um? Zunächst fällt auf, dass er sie häufig gebraucht. Dann wird aber auch schnell deutlich, dass er sie immer als ein historisches Dokument einer archaischen Kultur liest. Sie bietet ihm – wie bereits oben angesprochen – zusammen mit zahlreichen weiteren religiösen und philosophischen Schriften des Altertums – eine Basis für bestimmte Archetypen. Dazu wird das Jungsche Weltbild in die Bibel hineingelesen und die Kategorien der modernen Psychologie als Maßstab für die Bibel genommen, an der sie sich messen lassen muss. Last but not least fällt auf, dass für Peterson immer die historisch-kritische Eisegese maßgeblich ist, und zwar eine relativ alte Version davon, die auch in der universitären Theologie längst überholt ist. Mein Ratschlag an Peterson wäre deshalb, dass der Schuster bei seinen Leisten bleiben möge und sich nicht in Gebiete einmischt, in welche er zu wenig Einblick und zu wenig Zeit für weitere Arbeit hat. Ich vermute, dass sich Peterson beim Schreiben dieses neuen Buches zu sehr auf seine Arbeiten zu seinem ersten Buch „Maps of Meaning“ verlassen hat, aber da ich dieses Buch noch nicht kenne, kann dies vorerst lediglich meine persönliche Annahme bleiben.
Die zweite große Frage, die ich mir beim Lesen immer wieder gestellt habe, war diese: Was möchte Peterson mit seinem Buch und seinem Lehren erreichen? Eins ist klar: Er möchte etwas verändern. Er möchte diese Welt retten. Er möchte, dass unsere Welt nicht noch einmal in ein Chaos wie das der zwei Weltkriege stürzt. Er sieht sich – oder besser gesagt: Seine Lehre – als Allheilmittel für eine sterbende Welt, eine sterbende Freiheit, eine sterbende Ordnung, die im Chaos immer mehr untergeht. Er ist der messianische Heilsbringer, der zwar keineswegs meint, alles zu kennen, aber doch immerhin versucht, eine Lösung zu propagieren, wie der Mensch – also sein gebildeter Leser – eine Art Selbsterlösung vollbringen kann. Peterson ist Guru einer Selbsterlösungsreligion, die durch den Willen seiner Leser geschieht.
Hier wird es spannend, wenn man sich auf die Suche nach den Quellen des Selbst im Laufe der Geschichte macht. Denn hier ist auch das Ideal von Jordan Peterson zu finden. Im 19. Jahrhundert gab es eine größere Bewegung, die sich mit der Selbstverfeinerung des Menschen durch Bildung beschäftigte. Schon ein Jahrhundert früher war Benjamin Franklin der „erste Amerikaner“, der im Laufe der Zeit versucht hat, sein Image und auch sein Selbstbild immer wieder an die Gegebenheiten anzupassen, sodass es ihm den größtmöglichen Vorteil brachte. Im weiteren Verlauf der Geschichte bekam das Gegensatzpaar Natur-Kultur eine zunehmend wichtige Bedeutung für das Selbstverständnis des Menschen. Wer etwa Henry David Thoreau oder Ralph Waldo Emerson liest, bekommt ein gutes Gespür für diese Veränderungen. Letztendlich ging es darum, dass der Mensch sich selbst bestimmen, sich selbst definieren und auch sein Bild von sich selbst konstruieren soll. Der Mensch wird zum Schöpfer seiner selbst – in der größtmöglichen Freiheit, aber auch innerhalb der Grenzen von Natur und Gesellschaft. Dies verursacht eine große Spannung, und genau dieser Spagat, diese Spannung, sieht auch Peterson als Erlösung des Menschen. Möglichst hinter das 20. Jahrhundert zurück, damit der Mensch in diesem Spannungsverhältnis sich selbst finden kann und damit die Welt etwas besser zurücklässt als er sie vorgefunden hat. Das meint Peterson, wenn er seinem Leser empfiehlt, zur besten Version seiner selbst zu werden.
Mal davon abgesehen, dass es unsinnig ist, eine bestimmte Zeit und erst noch diese in einer bestimmten Gesellschaftsschicht, nämlich der oberen Mittelklasse der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, zu vergötzen, wird es auch Peterson nicht gelingen, seine Leser zu Übermenschen machen, die sich in diesem Spagat selbst zu erlösen vermögen. Es wird auch seinen Fans und Nachfolgern nicht anders ergehen als den Menschen des 19. Jahrhunderts, deren Wunsch der Selbstkonstruktion zu einer Überheblichkeit geführt hat, die bestimmtes Leben als weniger wert betrachtet hat. Die Eugenik- Euthanasie- und Rassenhygiene-Bewegung des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts hatte genau in diesem Denken ihren Ursprung. Auch bei Peterson spielt die kulturelle Evolution eine Rolle. Ideen führen zu weiteren Gedanken und letztendlich zu Taten. Ich kann an dieser Stelle nur beten, dass wir konservative Evangelikale bald aufwachen und die Folgen dieser Gedanken erkennen.