(Für heute mal eine Kurzgeschichte passend zur Jahreszeit)
Ralf hatte sie abgeholt. Nun saß sie neben ihm auf dem Beifahrersitz. Wobei – saß war nicht ganz korrekt. In jeder Kurve legte sie sich nach links und nach rechts auf die Seite. Und das, obwohl Ralf viel vorsichtiger fuhr als sonst. Es war Mitte Dezember, Schnee lag auf den Straßen, und langsam dämmerte der frühe Abend herein. Ein Grund mehr, gut aufzupassen. Schließlich war es ein ganz besonderes Geschenk für Lisa. Es war die Puppe, die sie sich gewünscht hatte.
Lisa war seine sechsjährige Tochter. Dieses Jahr konnte Ralf über die Feiertage nicht daheim sein. Zu viele Kollegen hatten sich schon früher um Urlaub über Weihnachten beworben, außerdem hatte seine Vorgesetzte zu ihm gesagt: „Ralf, ich habe gesehen, dass du die letzten Jahre immer zu Hause warst. Dieses Mal brauche ich dich hier.“ Also hatte er zugestimmt. Dafür würde es eine saftige Feiertagszulage geben. Lisa hatten sie erklärt, dass sie sich dafür im ganz großen Spielzeugladen, eine Stunde Autofahrt entfernt, etwas wünschen durfte.
Dann waren sie dort gewesen. Ralf erinnerte sich, als wäre es gestern gewesen. Seine Tochter hatte in den tausenden von verschiedenen Spielsachen nur Augen für eines: Ihre Puppe. Damals konnte er noch nicht verstehen, weshalb Lisa nahezu in Trance auf genau dieses Dings losgerannt ist. In 20 Sekunden stand ihre Wahl fest. Doch leider würde die nächste Auslieferung der Puppe noch dauern. Im Laden war nur ein Ausstellungsobjekt davon. Eine Woche vor Weihnachten könne sie dann abgeholt werden.
Als Ralf die Straße entlang fuhr, schaute er auf den Beifahrersitz. Jetzt verstand er seine Tochter. Diese Puppe hat eine ganz besondere Ausstrahlung. Schon als er sie im Laden entgegen nahm und den unerhört hohen Preis dafür bezahlte, spürte er diese unwiderstehliche Anziehung. Nein, es war überhaupt nichts Sexuelles, was ihn da anzog. Aber diese Augen, dieser Mund, alles strahlte ihm förmlich entgegen, als wollte es mitgenommen werden. So etwas hatte er noch nie erlebt.
„Jede Puppe wird von Hand mit Liebe zu einem Kind entworfen“, hatte die Verkäuferin erklärt. Das mache diese Marke so besonders. Außerdem werde ein Teil des Erlöses für die Aktionen einer wohltätigen Organisation gespendet, die sich für das Klima einsetze. Also gleich noch ein guter Zweck mehr dabei, dachte sich Ralf. Er bog vorsichtig um eine unübersichtliche Kurve; von den Bäumen fiel Schnee herab auf die Windschutzscheibe. Nun schaltete er den Scheibenwischer ein und starrte erneut auf seinen wertvollen Kauf. Wie sich Lisa wohl freuen würde.
Aber etwas war komisch. Die Puppe hatte sich irgendwie verändert. Ob es daran lag, dass er doch zu schnell gefahren war? Ob er sie zu arg durchgeschüttelt hatte? Ach nein, tadelte er sich selbst, es ist doch nur eine Puppe. Sie lag jetzt auf dem Beifahrersitz, mit den Füßen zur Rückenlehne, auf ihrem Rücken und den Kopf leicht zu ihm geneigt. Etwas war komisch. Irgendwie leuchtete etwas rötlich an ihr auf. Die Augen waren nicht mehr so groß und niedlich. Der Mund wie zu einem Strich geformt.
Ralf wusste, dass er sich jetzt auf die Straße konzentrieren musste. Diese blöde Puppe durfte ihn nicht ablenken. Und doch – es fiel ihm schwer, seinen Blick auf der Straße zu behalten. Immer wieder musste er sie anschauen. Immer wieder zog sie seine Augen auf sich. Gerade fühlte sich Ralf fast ein wenig, wie sich das Wirtsvogelpaar eines Jungkuckucks fühlen musste: Sie wissen zwar, dass sie einen falschen Vogel füttern, aber sie können einfach nicht anders, als es immer wieder zu tun.
Ist das eine Art Trunkenheit, die sich in ihm breit machte? Er wurde schläfrig und blieb immer wieder mit seinem Blick auf diesem Ding hängen. Nun war es kein Puppengesicht mehr – es war eine hässliche Fratze, die ihn zornentbrannt ansah. Ist das noch Realität oder spielte ihm seine Phantasie einen Streich? Aus den Augen der Puppe lief eine blutrote Flüssigkeit. Ralf wollte nur noch nach Hause kommen, fühlte sich gefangen mit einem Wesen, das er nicht einschätzen konnte. Fest trat er auf das Gaspedal, sein Wagen schoss nach vorne, die Hände am Lenkrad waren nicht mehr wirklich unter seiner Kontrolle. Da kam die nächste Kurve.
Ralf bemerkte das Ende kaum. Er jagte zwischen zwei Bäumen ins Tal hinunter, bis ihn eine große Fichte zum Stopp führte. Halb ohnmächtig klammerte er sich am Lenkrad fest, bis der schwere Aufprall dazu führte, dass der Airbag mit Verspätung auslöste und so zum Genickbruch führte. Die Bergung am nächsten Morgen dauerte mehrere Stunden. Neben Ralfs Leiche lag ein Puppenkopf mit süßlichem Grinsen auf dem Beifahrersitz. Am Boden des Beifahrersitzes fanden sie den dazu passenden Torso. In der Puppe war ein Zettel mit der Nachricht angebracht: „Fürs Klima sind nur tote Menschen gute Menschen.“
Herbst 2024, Jonas Erne
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