Wie können wir denn im postfaktischen Zeitalter leben?

Ich habe bereits vor einer Weile gezeigt, dass wir nicht die ersten sind, die in einem postfaktischen, postdemokratischen und postliberalen Zeitalter leben. Heute möchte ich noch einen Schritt weiter gehen und nach möglichen Antworten auf diese Frage suchen, wie man in einem solchen Zeitalter leben kann. Ich mache gleich zu Beginn zwei wichtige Unterscheidungen. Es gibt zwei mögliche Arten von Antworten auf diese Frage. Eine Art befindet sich innerhalb des Bereichs der allgemeinen Gnade und eine Art innerhalb der speziellen Gnade. Was ist der Unterschied? Die allgemeine Gnade ist die Art, wie Gott unsere Welt lenkt und jeden Menschen und die gesamte Schöpfung segnet. Allgemeine Gnade ist, dass jeder Mensch ein Gewissen hat. Durch das Gewissen wird jeder Mensch davon abgehalten, so schrecklich zu handeln, wie er könnte, wenn er das Gewissen nicht hätte. Zur allgemeinen Gnade gehört, dass Gott die Naturgesetze aufrecht erhält, dass nach dem Regen wieder Sonne, nach der Nacht wieder Tag und nach dem Winter wieder Sommer kommt. Zur allgemeinen Gnade gehört auch, dass es Staaten gibt, die ebenfalls dazu beitragen, dass nicht jeder tun und lassen kann, was ihm gerade in den Sinn kommt, da der Staat dazu Gesetze schafft, die uns in Erinnerung rufen, dass nicht alles erlaubt ist und die uns vor dem Unerlaubten abschrecken. Zur allgemeinen Gnade zählt auch, dass jeder Mensch in der ganzen Schöpfung Gott erkennen kann, aber auch die Freiheit hat, diese Erkenntnis abzulehnen und zu unterdrücken. Zur speziellen Gnade hingegen zählt alles, was Gott denen verspricht, die an Ihn glauben, die von Neuem geboren sind. Aus dem Blickwinkel der speziellen Gnade ist die Antwort auf unsere Frage eindeutig: Was wir brauchen, ist Erweckung, denn dort, wo viele Menschen zum lebendigen, heiligenden und umgestaltenden Glauben kommen, verändert sich auch die jeweilige Gesellschaft zum Guten.
Aber was ist, solange es noch keine solche Erweckung in unserer westlichen Welt gibt? Kann es da eine Antwort geben, die auch aus der Sicht der allgemeinen Gnade zum Guten führt? Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass es auf jeden Fall gute Ansätze gibt, die man überdenken und weiterentwickeln kann. In der Zeit des griechischen Postfaktizismus war es zum Beispiel der Philosoph Aristoteles, der sich darüber Gedanken machte, wie man in dem Zeitalter leben könne. Aristoteles kam zum Schluss, dass die Tugend etwas besonders Wichtiges ist. Doch was ist Tugend genau? David F. Wells beschreibt das in seinem Buch „Losing Our Virtue“ sehr gut. Ich versuche, mit eigenen Worten kurz zu fassen, was Wells als Tugend herausarbeitet. Es gibt im Leben drei Arten von Bereichen. Ein solcher Bereich wird vom Staat mit seinen Gesetzen abgedeckt. Mord und Diebstahl werden durch Gesetze verboten. Das ist der erste Bereich. Auf der anderen Seite gibt es den Bereich der persönlichen Freiheit. Ich kann mich frei entscheiden, ob ich am Abend noch ein Buch lesen, auf Facebook chatten oder einen Film anschauen will. Da hat der Staat nichts festzulegen. Und dazwischen gibt es einen Bereich, der eigentlich durch die Tugend abgedeckt wurde. Die Tugenden sind Leitlinien, die das zwischenmenschliche Miteinander ermöglichen sollen. Höflichkeit ist eine Tugend, die früher in den Familien einen hohen Stellenwert besaß. Es war schwierig, unhöflich zu sein, denn die Menschen waren ihrer Gemeinschaft ein Stück weit ausgeliefert, man konnte nicht einfach so schnell umziehen und woanders eine neue Existenz aufbauen. Wer geizig war, wurde gemieden. Und so weiter. Die Strafe für untugendhaftes Verhalten kam ziemlich automatisch aus der Gesellschaft, in der man lebte. Diese Tugend ist heutzutage verloren gegangen. Zwischen den staatlichen Gesetzen und der persönlichen Freiheit ist ein Vakuum entstanden, um das sich nun die beiden Extreme, Staat und persönlicher Egoismus, streiten.
Aristoteles stand einem ähnlichen Problem gegenüber. In seiner Zeit waren es Sophisten, die eine Lehre vom Leben verbreiteten, die unserer Zeit in gewissen Punkten gleichen. Sie waren der Meinung, dass es keine absolute Wahrheit gebe. Alles sei relativ. Wahrheit sei das, was die besten Rhetoriker durch ihren besten Reden verkündeten. Heute ist Wahrheit das, was jene Minderheiten verkünden, die sich als am meisten unterdrückt darstellen können. Auch das ist eine Form der Rhetorik. Für die Sophisten war der Mensch das Maß aller Dinge. Auch heute klingt es ähnlich: Der Mensch würde seine Realität kulturell selbst konstruieren, und zwar so, dass die Konstrukteure der Realität jeweils die meiste Macht erhielten.
Aristoteles beginnt seine Untersuchung der Ethik mit etwas, was uns auch heutzutage sehr bekannt scheint. Er fängt mit der Feststellung an, dass alle Menschen nach Glück streben. Dazu muss er aber definieren, was Glück ausmacht. Er definiert Glück mit dem richtigen Handeln und richtigen Leben. Das höchste Gut im Leben, das was das Glück ausmacht, ist zugleich aber auch das höchste Ziel im Leben. Aristoteles sagt das ungefähr so: Jeder Mensch hat viele Ziele. Manche Ziele suchen wir für uns selbst, manche auch für andere Menschen, das höchste Ziel hingegen suchen wir um dieses Zieles willen. Und hier muss Aristoteles, aber auch jeder andere Mensch, der versucht, eine Begründung für sein Leben und Handeln außerhalb von Gott zu suchen, auf einen Zirkelschluss zurückgreifen. Die einzige Ethik, welche letztlich ohne einen solchen auskommt, ist die Ethik der Bibel, denn sie kann sich auf die unfehlbare Offenbarung Gottes verlassen.
Jeder Mensch strebt nach Glück. Glück bedeutet richtiges Leben und richtiges Handeln. Glück will der Mensch, um glücklich zu sein, und nicht um damit noch etwas anderes zu erreichen. Die Tugend ist dieses richtige Leben und richtige Handeln. Doch was gehört zu dieser Tugend dazu? Zwei Dinge: Erstens die Vernunft und zweitens das dieser Vernunft gemäße Handeln. Jeder Mensch hat im Leben bestimmte Aufgaben. Er hat einen Beruf, er hat Familie, er läuft an bestimmte Situationen heran, etc. und immer und überall steht er da als Mensch mit bestimmten Aufgaben. Nun gibt es nach Aristoteles viele Momente, in denen man nicht einfach sagen kann: Dann muss jeder die Handlung XY tun. Wer abends in Frankfurt an eine Schlägerei läuft, sollte nicht zwingend eingreifen, denn es könnte sein, dass er mit einem Notruf besser gehandelt hat. So kann die Aufgabe je nach Person ganz unterschiedlich aussehen. Einer ist handwerklich begabt, ein anderer eher intellektuell. Da haben nicht beide dieselbe Aufgabe im selben Moment, sondern wenn jeder mit seinem besten Können mithilft, wird die Sache im Endeffekt besser. Tugend ist nach Aristoteles die Mitte zwischen zwei Extremen:
Feigheit – Tapferkeit – Tollkühnheit
Geiz – Großzügigkeit – Verschwenderei
Schmeichelei – Freundlichkeit – Streitsucht

Sehr viele Tugenden lassen sich in diese Dreiteilung eingliedern. Die „Mitte“ bedeutet bei Aristoteles aber nicht 50%. Das kann sein, muss aber nicht. Es kommt jeweils auf die Situation an. Deshalb braucht es auch den Verstand dazu, der einem hilft, zwischen diesen Extremen zu entscheiden. Und dann gibt es auch noch Tugenden, die keine Mitte haben. Es gibt keine Mitte zwischen Mord und am Leben lassen. Oder keine Mitte zwischen Treue und Ehebruch. Deshalb sind Mord und Ehebruch immer zu verurteilen. Ein weiterer wichtiger Punkt ist auch, dass diese Tugend immer etwas mit unserem Willen, mit einer festen Entscheidung zu tun hat. Ich glaube, das ist in unserer Zeit ebenso wichtig zu sagen wie es damals zur Zeit Aristoteles’ war. Wir leben in einer Zeit, in welcher diese Entscheidungen verpönt sind. Eine Entscheidung für etwas bedeutet immer 1000 Entscheidungen gegen mögliche Alternativen. Als ich meine Frau heiratete, habe ich mich gegen Milliarden anderer Frauen entschieden. Aber wer sich nicht entscheidet, bekommt die Rechnung bald, denn dann entscheiden die Umstände für uns und wir müssen mit ihnen klarkommen. Tugend muss entschieden werden, weil sie das Gegenteil des instinktiven Handelns ist.
Doch wie kommen wir dorthin? Uns fehlt die Gesellschaft, die uns für die Untugend straft. Wir können jederzeit fliehen, jederzeit an einem neuen Ort eine neue Existenz aufbauen. Da braucht es unseren Willen, das zu durchdenken. Es braucht auch eine neue Erziehung zur Tugend. Ethik hat eine ganze Menge mit Erziehung zu tun. Der Grundsatz dafür muss lauten, dass es Richtig und Falsch gibt. Dass Richtig und Falsch nicht in den Extremen zu finden ist. Und dass der Mensch eine Vernunft bekommen hat, die ihm dabei hilft. Soviel zu einer Ethik der allgemeinen Gnade. Wichtig bleibt der Hinweis, dass alle Ethik niemanden zu Gott bringt. Dorthin führt nur ein Weg, eine Wahrheit und ein Leben – Jesus Christus. 

Ein postfaktisches, postdemokratisches, postliberales Zeitalter

Wahrheit ist, was überzeugt. Jeder kann sein, was er will. Freiheit ist nicht so wichtig wie Sicherheit und Gleichheit. Es kann keine objektive Wahrheit geben. Wahrheit wird von der Gesellschaft konstruiert. Gefühle sind wichtiger als Tatsachen. Jeder hat seine eigene Erfahrung und Auffassung. Der Mensch ist das Maß aller Dinge.
Könnten diese obigen Sätze unserer Zeit entstammen? Ja, sie könnten. Und manch einer hält unsere Zeit für einzigartig. Doch könnten obige Zeilen ebenso gut im Athen vor 2500 Jahren gesagt oder geschrieben worden sein. Der letzte Satz ist übrigens genau in jener Zeit entstanden – es ist einer der ganz wenigen Sätzen, die man mit Sicherheit Protagoras zuschreiben kann.
Vor ungefähr 2500 Jahren war Athen eine blühende Stadt. Der technische Fortschritt und immer neue wissenschaftliche Entdeckungen prägten das Leben. Die Kunst hatte einen wichtigen Platz im Leben eingenommen. Athen war eine Demokratie – zwar nur eine der freien Männer, aber trotzdem hatte so jede Familie ein Mitspracherecht. Der Mittelstand war längere Zeit gewachsen und hatte Hoffnungen geweckt. Die Menschen sahen immer mehr, wieviel sie aus eigener Kraft erreichen konnten – mit Hilfe von Werkzeugen, Tieren und Angestellten. Der griechische Götterhimmel war tot – man feierte zwar die wichtigsten Feste zu Ehren der Götter, aber hauptsächlich deshalb, weil es die einzigen freien Tage des Jahres waren und weil man dazu verpflichtet war. Der griechische Götterhimmel war Staatsreligion. Doch längst war das alles nur noch tote Tradition. Wer nicht bei dieser staatlichen Götteranbetung teilnahm, dem drohte Verbannung oder gar Todesstrafe.
Der technische Fortschritt stärkte das Selbstbewusstsein der Athener enorm. Zugleich aber wuchs das neue Wissen derart rasant an, dass man es irgendwie sammeln und auch weitergeben musste. Diese Aufgabe als Universalgelehrte nahmen die Sophisten auf. Sie studierten das Wissen, sammelten es, und zogen umher, um es jedem anzubieten, der ihnen genug Geld dafür zahlte. Die Sophisten merkten bald, dass manche Dinge dieser Wissenschaften im krassen Widerspruch zueinander standen. Statt einer universalen Theorie, die alle Dinge umfasst, gab (und gibt) es nur mehrere einzelne Theorien, die nicht vereinbar sind. So kamen sie zum Schluss, dass alles relativ sei. Wahrheit sei nichts Absolutes, sondern der einzelne Mensch sei immer das Maß aller Dinge.
Was musste nun kommen? Plötzlich wurde die Rhetorik zum wichtigsten Zweig der Wissenschaften. Wie kann man überzeugend reden? In der athenischen Demokratie war dies besonders wichtig, denn jeder konnte mitreden, und wer überzeugte, befahl. So wurde aber zugleich aus dieser Demokratie eine Postdemokratie. Es wurde zu einer „Rhetorikratie“, eine Oligarchie der wenigen, in Rhetorik gut geschulten, reichen Bürger. Immer wieder kam es zu bürgerkriegsähnlichen Aufständen, Absetzungen, Verbannungen, die das Leben der Demokratie schwächten. Statt Fakten zählten die Gefühle, welche durch gelehrte Reden hervorgerufen wurden. Das Problem mit den Gefühlen in der Politik ist, dass sie ungerecht sind. Angst, Zorn, Mitleid, Empörung haben in der Politik nichts verloren. Gefühle ersetzen die Gerechtigkeit und führen zwangsläufig zu einem Zustand, den die Bibel „Ansehen der Person“ nennt. Gerechtigkeit wäre, wenn alle gleich behandelt werden – ohne Ansehen ihres Standes, Geschlechts, Reichtums (oder Armut), etc. Auch heute geht die Gerechtigkeit unter – zugunsten einer falsch verstandenen Pseudo-Gerechtigkeit, die versucht, Unterschiede durch politische Aktionen wie etwa Steuern, Gesetze, oder individuelle Behandlung vor Gericht, einzuebnen.
Die antiken Sophisten waren postliberal. Eigentlich sollte die attische Demokratie ja die Freiheit des Einzelnen schützen und stärken. Die Sophisten unterstützten die Reichen, die politische Ambitionen hatten und ihnen Geld für ihr Wissen und den Unterricht in der Rhetorik bezahlen konnten. Auch die heutigen Sophisten rufen wieder nach einem starken Staat mit Überwachung und Schutz vor dem Terrorismus. Sie sind einerseits bereit, mehr überwacht zu werden, aber zugleich hat man dann Probleme mit den USA, ist lieber für die Russen, wo es mit der Demokratie auch nicht weit her ist, und schimpft über die NSA. Was wäre die bessere Alternative? Wenn wir weiterhin Demokratie wollen, dann wird nur eines übrig bleiben. Wir müssen uns darum bemühen. Demokratie ist – anders als die meisten von der Demokratie beschenkten Menschen denken – kein automatischer, immer bleibender Zustand. Sie lebt davon, dass sich der Einzelne einbringt und mitarbeitet. Ohne die vielen Einzelnen mit ihren unterschiedlichen Sichtweisen, Ideen und Alternativen wird die Politik zur alternativlosen Oligarchie – zu einer Herrschaft der Wenigen, in der nur noch abgenickt wird, was sowieso schon längst feststeht.
In die Zeit der antiken Sophisten wurde Sokrates geboren, etwas später sein wichtigster Schüler Platon, sowie danach dessen Schüler Aristoteles. Diese drei Philosophen versuchten, eine Antwort auf die Sophisten zu geben. Sie gingen den Fragen nach, wie man richtig leben kann, auch in Zeiten, in denen der Götterhimmel nichts mehr zu bieten hatte. Zunächst war ihnen wichtig, dass Wissen ein demokratisches Gut ist. Sie gingen nicht nur zu den Reichen, sondern redeten mit allen, die sich dafür interessierten. Jeder darf das Wissen haben, jeder darf und kann über die großen Fragen dieser Welt nachdenken. Sie alle waren sich darin einig, dass die Realität, die wir mit unseren Sinnen wahrnehmen, tatsächlich real ist, und ebenso auch, dass das richtige Wissen zum rechten Handeln führen wird.
Darüber hinaus konnten sie recht wenig Gemeinsamkeiten finden. Jeder übernahm manch einen Gedanken seines Lehrers, aber drehte die meisten davon auf den Kopf. Für Platon war das eigentlich Realere das Urbild hinter den einzelnen Erscheinungen in der Welt. Die Pferdheit ist realer als das einzelne, unterschiedliche Pferd. Für Aristoteles existiert die Pferdheit gar nicht, sondern nur das einzelne Pferd, und er hält die Pferdheit für eine rein menschliche Erfindung. Aus biblischer Sicht können wir beiden bedingt zustimmen. Gott hat die Pferdheit ausgedacht, nämlich die Spezies namens Pferd, und dazu durch sexuelle Fortpflanzung jedes einzelne Pferd geschaffen. Beides ist gleichermaßen real: Gottes Idee der „Pferdheit“ und die einzelnen „Erscheinungen“ dieser Idee Gottes, nämlich alle real existierenden und jemals real existiert habenden Pferde. Einheit und Vielfalt entstammen Gottes Wesen, da Gott der Dreieine ist, und wenn wir unsere Welt kennenlernen wollen, dann werden wir – ob wir das wollen oder nicht; ob wir diese Wahrheit annehmen oder verdrängen und unterdrücken, das ist uns überlassen – in einem gewissen Maß auch Gottes Wesen kennenlernen.