Verschwende nicht – deine Fragen!

 

Vor einem guten Jahrzehnt gab es für viele junge Menschen den Leitspruch „Don‘t waste your life!“ Verschwende nicht dein Leben! Inzwischen hat sich eine Menge verändert. Junge Menschen haben vielfach gelernt, Entscheidungen zu treffen und ein verantwortliches Leben zu leben. Im dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts gibt es eine andere Not:

Ich glaube, die größte Weisheit dieser unserer Zeit besteht darin, gute Fragen von weniger guten Fragen unterscheiden zu können.

Don‘t waste your questions! Verschwende nicht deine Fragen!

Was meine ich damit?

Es geht nicht darum, dass wir bestimmte Fragen unterdrücken, verbieten, verdrängen sollen. Absolut nicht. Es gibt keine falschen Fragen, solange sie ernst (und nicht einfach nur rhetorisch gemeint sind). Es gibt keine verbotenen Fragen.

ABER

Es gibt Fragen, die es mehr wert sind als andere, dass wir sie stellen, ihnen nachgehen und nach Antworten suchen.

Darum geht es mir.

Wir leben in einer Zeit, in welcher man sich an Fragen bis zum Gehtnichtmehr vollfressen kann. Jede und jeder wird beständig mit unzähligen Fragen bombardiert. Und lasst uns ehrlich sein: Fragen kosten. Sie kosten Zeit, Kraft, Aufmerksamkeit, Ausdauer, Geduld, und vieles mehr.

Don‘t waste your questions! Verschwende nicht (länger) deine Fragen!

Wie machen wir das praktisch?

Es gibt dazu sehr viel zu sagen. Man könnte Bücher damit füllen, glaube mir. Die Schwierigkeit bei Fragen ist oftmals die, dass es nicht so eine klare, einfache Richtlinie gibt. Wie gesagt, es geht nicht um richtige und falsche oder um erlaubte und verbotene Fragen. Es geht viel mehr um bessere, um wertvollere Fragen und weniger gute.

Schauen wir noch einmal zurück: Vor einem guten Jahrzehnt war die Ausgangslage eine andere. Es war schon damals eine Informationsflut. Aber viele der Informationen kamen in einem längeren Kontext. Sie kamen aus Onlineforen, längeren Blogposts, ganzen Fernsehsendungen, häufig längeren YouTube-Videos und vielem mehr.

Was jetzt anders ist: Microblogging und Microvideoing und Instagramming hat Kurzformate gepusht. TikTok ist zur neuen Bibel- und Denkschule geworden. YouTube gibt es immer noch, aber die durchschnittliche Länge von Content hat abgenommen. Twitter hat Kurznachrichten gepusht. Instagram hat zunächst Bilder, dann Kurztexte und Kurzvideos gepusht.

Vergiss nicht: All das ist nicht schlecht. Aber es verändert unser Denken. Es macht etwas mit uns. Wir alle verändern uns dadurch, wenn wir diese Medien nutzen.

Wenn du in diesen Medien (und ich habe viele ausgelassen) Erfolg haben willst, musst du dich kurz fassen. Du musst kürzen, verkürzen, Themen anreißen, Fragen anreißen. Ohne sie abschließend zu beantworten. Dafür taugen die Formate nicht.

Die Folge ist, dass du in wenigen Minuten scrollen, wischen, klicken, und so weiter, eine immense Anzahl von Fragen aufgetischt bekommst. Jeden Tag. Wenig Antworten, aber viele, viele Fragen. So viele Fragen, dass eigentlich jeder Mensch davon überfordert ist.

Was uns heute also stärker als vor zehn Jahren überfordert, ist also nicht mehr die Informationsflut, sondern die Fragenflut.

Don‘t waste your questions! Verschwende nicht deine Fragen!

Wie gesagt, es gibt viel dazu zu sagen, wie man Fragen von Fragen unterscheiden kann. Vermutlich werde ich im Laufe der Zeit noch mehr dazu schreiben. Hier zunächst einmal meine drei wichtigsten Überlegungen, die ich im Laufe der letzten Jahre dazu angestellt habe:

1. Wer darf dir Fragen geben?

Damit bin ich schon mitten im wichtigsten Thema drin. Deine und meine Zeit ist begrenzt. Deine und meine Kraft und Geduld und Denkfähigkeit und so weiter ist begrenzt. Also die Ressourcen, die für Fragen benötigt werden.

Wenn du diesen Blogpost bis hierher gelesen hast, lass mich dir ein großes DANKE sagen. Es ist ein Privileg, dass du mir so viel deiner Ressourcen schenkst. Und bei allen anderen ist es dasselbe. Nutze deinen Verstand und beschränke die Anzahl der Personen, von denen du dir solche Fragen stellen lässt. Ich schreibe dir nicht vor, dass du mich lesen sollst und bestimmte andere nicht. Das steht mir nicht zu.

Überlege dir, von wem du Fragen bekommst, durch die du gesegnet wirst. Die dir gut tun. Die Fragen stellen, die dich im Leben und im Glauben wirklich vorwärts bringen. Lieber doppelt so viel Zeit und Kraft in die richtige Richtung investieren, als überall hin.

2. Vermeide unehrliche Fragen

Es gibt ehrliche und unehrliche Fragen. Ehrliche wollen dich weiter bringen, unehrliche halten dich ab, halten dich klein, zerstören deinen Glauben. Doch wie können wir sie erkennen?

Unehrliche Fragen wollen dich entmündigen. Sie wollen dir vorschreiben, dass du zuerst auf eine gelehrte Stimme hören musst, um die Bibel verstehen zu können. Sie versuchen zu erklären, was davon alles nur ein Teil der frühen Kultur war und deshalb heute ungültig ist. Sie wollen dir weismachen, dass nur jemand mit der richtigen Ausbildung imstande ist, die Bibel richtig zu verstehen. Sie halten dich klein und unmündig.

3. Mach Pausen und denk richtig darüber nach

Die Fragenflut unserer Zeit wird schnell überwältigend. Selbst dann, wenn wir die ersten zwei Punkte einhalten und nur bestimmte Menschen uns Fragen aufdrängen lassen, über die wir nachdenken. Das Fruchtloseste, was du tun kannst, ist 50 Fragen zugleich im Hinterkopf zu wälzen. Egal wie gut und wie wertvoll die Fragen sind, Fragen (und auch Zweifel) sind etwas Gutes, weil sie uns dazu bringen wollen, dass wir gezielt darüber nachdenken und Antworten suchen.

Deshalb nimm dir immer wieder 2-3 Fragen, über die du gezielt nachdenkst und lass nicht locker (und keine neuen Fragen dazu kommen) bis du Antworten gefunden hast.

Was sind deine Tipps oder weitergehenden Fragen zum Umgang mit den vielen Fragen unserer Zeit?

Buchtipp: Demokratie, Freiheit und christliche Werte

Stückelberger, Hansjürg, Demokratie, Freiheit und christliche Werte – Liebe heilt die Gesellschaft, Esras.net GmbH, Niederbüren, 2020, Verlagslink, Amazon-Link

Eins vorweg: Der Titel des Buches hat mich fasziniert. Große Worte, die mir viel bedeuten. Ich war gespannt, wie überzeugend der Autor in den gerade mal gut 200 Seiten sein Verständnis davon darlegen kann. Ganz besonders trieb mich auch die Frage um, für welches Zielpublikum das Buch wohl geschrieben wurde.

Hansjürg Stückelberger ist ein Schweizer Pfarrer im Ruhestand, wurde letztes Jahr 90 Jahre alt und gründete mehrere Missions- und Hilfswerke, sowie die Stiftung Zukunft CH. Seit vielen Jahren sind ihm die Menschenrechte und die biblischen Werte sehr wichtig.

Das Buch selbst ist in zehn Kapitel gegliedert. Im ersten Kapitel werden negative Beispiele genannt – Staaten, welche sich demokratisch nennen, aber von Korruption geprägt sind. Bereits hier fällt auf, dass für das Lesen eine gewisse Bildung nötig ist. Begriffe wie „Rechtsstaat“ (S. 11) werden nicht definiert oder beschrieben, sondern als selbstverständlich bekannt vorausgesetzt. Auch im zweiten Kapitel, welches sich mit der Bedeutung der Religion für eine erfolgreiche Kultur befasst, werden viele Beispiele genannt – positive und negative. Viele Unterkapitel sind mit Geschichten aus dem persönlichen Leben des Autors gewürzt, da er viel gereist ist und Kontakt mit Menschen rund um den Erdball hat. Das zweite Kapitel schließt mit fünf Schlussfolgerungen (S. 40 – 42), in diesem Fall fünf Hypothesen, die der Autor aus dem zuvor Geschilderten schließt. Mehr dazu weiter unten.

Im dritten Kapitel kommt die Weltgeschichte bis zur französischen Revolution in den Blick. Es beginnt mit dem frühen Christentum und zeichnet den Weg auf der Suche nach echter Freiheit und Menschenwürde nach. Dieses Kapitel kann ich wirklich jedem zu lesen empfehlen. Das vierte Kapitel ist eine theologische Überlegung zur Heilsgeschichte, der Autor kehrt an den Anfang der Bibel zurück und erklärt den Beginn der Heilsgeschichte, also Gottes Geschichte mit der Welt, den Sündenfall der ersten Menschen und die Person Satans. Sodann wird im fünften Kapitel die Frage nach der Ordnung in der Welt, dem Verhältnis von Recht und Freiheit nach dem biblischen Weltbild erörtert. Im sechsten Kapitel kehrt der Leser wieder an das Ende des dritten zurück: Aufbauend auf den zwei eingeschobenen Kapiteln wird gezeigt, wie das Denken der französischen Revolution (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit) zusammen mit dem biblischen Weltbild zur Demokratie in den USA führte. Die abschließenden vier Kapitel versuchen aufzuzeigen, wie das Ganze in unserer heutigen Zeit, im Alltag umgesetzt werden sollte, welche Auswirkungen das biblische Weltbild auf die Gesellschaft haben will und welches die biblischen Werte sind, welche unser Leben, Denken und Handeln bestimmen wollen.

Ich persönlich finde das Buch gut geschrieben, es entspricht meinem theologisch konservativen Weltbild, es zeigt vieles recht gut auf, wobei ich ihm zustimmen kann. Dennoch: Wirklich viel Neues habe ich nicht gelernt. Ich finde es wertvoll, wie der Autor versucht, die Geschichte der westlichen Demokratie mit der Heilsgeschichte zu verbinden. Für einen schnellen, sehr kurzen Überblick ist das Buch gut geeignet. Wer jedoch dabei weiter denken möchte, ist auf sich selbst gestellt.

Leider muss ich dem Buch auch verschiedene Schwächen attestieren. Zunächst einmal kann ich die Frage nach dem Zielpublikum bloß schwer beantworten. Es wird eine Menge Grundwissen vorausgesetzt, da – wie oben bemerkt – oft Erklärungen und Definitionen fehlen. Zugleich ist es nicht an eine akademisch geschulte Leserschaft gerichtet. Die Endnoten sind dafür zu leichtfertig angefertigt. Ein Beispiel: Wer bereits vom Gründervater und US-Präsidenten Thomas Jefferson gelesen hat, wird genauer wissen wollen, in welchem Zusammenhang er so positiv von der Bibel gesprochen hat. Die Endnote 142 mit Hinweis auf ein factum-Magazin ist hier nicht ausreichend als Beleg. Schade finde auch, dass die ganze Auseinandersetzung um die Gründung des US-Demokratie nicht näher ausgeführt wird. Es gäbe enorm viel zu lernen, wenn man sich mit den Dokumenten der Gründerväter und ihren Diskussionen noch weiter beschäftigen würde. Stückelberger handelt diese ganze Diskussion so ab, als hätte es darin schon immer einen großen Konsens gegeben.

Ähnliches gilt für die fünf Schlussfolgerungen des zweiten Kapitels. Wer – wie ich – von einem theologisch konservativen, bibeltreuen Weltbild ausgeht, kann diese durchaus als Fazit betrachten. Sie sind eine von zahlreichen Möglichkeiten, wie man die vielen Beispiele des Kapitels deuten kann – jedoch keineswegs zwingend. Und hier sehe ich eine der größten Schwächen des Buchs. Es ist für den Inhalt, den es beackern möchte, schlichtweg zu kurz. Wer Menschen, die von ganz anderen Voraussetzungen ausgehen, überzeugen möchte, würde den Rest des Platzes im Buch benötigen, um dies schlüssig darzulegen.

Was vermag dieses Buch also zu leisten? Es ist eine Art Manifest, das die theologischen, politischen und sozialen Überzeugungen des Autors wiedergibt. Es eignet sich für konservative Christen, die sich in ihren Überzeugungen stärken möchten, für Christen, welche die christlichen Werte noch besser kennenlernen möchten, und für alle, die gern über die Geschichte nachdenken. Ein weiterführendes Werk zu den Themen fehlt in deutscher Sprache meines Wissens leider weiterhin. In englischer Sprache wäre „Politics according to the Bible“ von Wayne A. Grudem zu nennen.

Ich gebe dem Buch vier von fünf Sternen.

Die Bücher meiner Kindheit

Bücher, die meine Kindheit geprägt haben. Daneben gab es natürlich noch hunderte mehr, aber hier mal diejenigen, die mich nebst der Bibel besonders auch längerfristig beschäftigt haben. Diese folgenden habe ich vermutlich alle mehr als einmal gelesen, kann mich aber nicht mehr in jedem Fall an die genauen Zahlen erinnern.

Sofies Welt

Als junger Mensch mit sehr vielen Fragen hat es mir sehr gut getan, mal zu erfahren, dass diese Fragen schon seit Jahrtausenden gestellt und beantwortet werden. Als ich mit etwa neun Jahren erstmals Sofies Welt gelesen habe, konnte ich das meiste noch nicht wirklich verstehen, aber zwei Dinge sind mir seither geblieben: Die Liebe zur Geschichte und zur Philosophie, sowie der Mut, Fragen zu stellen, auch wenn die Antworten unangenehm sein können. Amazon-LinkHier habe ich noch mehr dazu geschrieben.

Momo

Dieses Buch von Michael Ende habe ich ebenfalls bei meinen Großeltern kennengelernt. Auch hier gibt es wieder Dinge, die größer waren als mein damaliges Verständnis, aber das macht es auch spannend, darüber noch weiter nachzudenken. Man kann von Michael Ende halten was man will – aber spannend schreiben kann er! Und dabei erst noch Fragen ansprechen, die auch so ein Kinderköpfchen beschäftigen. Amazon-Link

Der „Lederstrumpf“

Auch wenn ich über 40 Bände von Karl May gelesen habe – keiner davon konnte mich derart mitreißen wie die fünf Lederstrumpf-Bände von James F. Cooper. Nicht nur Indianergeschichten, sondern man lernt eine ganze Menge über Tugenden und christliche Nächstenliebe. Wertvoll! Amazon-Link

Die Narnia-Serie

In der Zeit meiner Kindheit kam allgemein gerade ein neues Interesse an C. S. Lewis und besonders an seiner Narnia-Serie auf. Mit viel Spannung habe ich die Geschichten gelesen. Es brauchte jedoch die mehrfache Lektüre, um die biblischen Zusammenhänge zu verstehen, die Lewis in seinem Roman untergebracht hatte. Amazon-Link

Die Blitz-Serie

Als großer Pferde-Fan darf natürlich auch eine Pferde-Serie nicht fehlen. Davon habe ich mehrere gerne gelesen, doch so richtig spannend fand ich vor allem Walter Farleys Serie um Blitz, den schwarzen Hengst. Bei dieser Serie habe ich mir den Spaß gemacht, in Bücher-Antiquariaten nach möglichst alten Ausgaben zu suchen. Hier der Amazon-Link zum ersten Band der Serie.

Die Abenteuer-Serie

Die Abenteuer von Jack, Dina, Philip und Lucy habe ich mir auch auch alle mehrmals reingezogen. Die meines Erachtens mit Abstand originellste Serie von Enid Blyton. Aber manchmal frage ich mich schon, wie es jemand schafft, so viele Bücher zu schreiben. Das allein ist schon eine Kunst für sich. Hier der Amazon-Link zum ersten Band der Abenteuer-Serie.

Und welches waren Deine Kindheits-Bücher?

Buchtipp: Zeit der Zauberer

Eilenberger, Wolfram, Zeit der Zauberer, Klett-Cotta, J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, Stuttgart, 2018, 432S., Kindle-eBook, Verlagslink, Amazon-Link

Vier Philosophen, zehn Jahre und jede Menge Streit – das könnte leicht zu einem Krimi werden. Besonders dann, wenn sich auch noch einer der Moderatoren der „Sternstunde Philosophie“ im Schweizer Fernsehen darum kümmert, diese Zeit verständlich zu machen. „Zeit der Zauberer“ setzt sich mit der Sprachphilosophie in der Zeit von 1919 – 1929 auseinander. Ludwig Wittgenstein, Martin Heidegger, Ernst Cassirer und Walter Benjamin sind die Protagonisten. Wolfram Eilenberger zieht den Vorhang auf und lässt seine vier Zauberer erscheinen. Bühne frei für ein spannendes Jahrzehnt der deutschsprachigen Philosophie!

Zunächst tritt Ludwig Wittgenstein auf die Bretter, die die Welt bedeuten. Dieser hatte 1911 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs in Cambridge unter Bertrand Russell studiert, im Krieg in der Gefangenschaft in Italien den „Tractatus logico-philosophicus“ beendet, in welchem er meinte, alle Probleme des Denkens im Wesentlichen endgültig gelöst zu haben. Das Problem war nur, dass damals noch kaum einer verstand, was Wittgenstein in seinem Tractatus sagen wollte. Er hatte sein Vermögen der übrigen Verwandtschaft vermacht und die zehn spannenden Jahre als Grundschullehrer in der Provinz zugebracht.

Martin Heidegger hatte in dieser Zeit sein wichtigstes Buch geschrieben: „Sein und Zeit“. Als Höhepunkt seiner Karriere sieht Eilenberger die Rückkehr nach Freiburg, wo er den Lehrstuhl seines Vorgängers Edmund Husserl übernimmt und die „Davoser Hochschulkurse“ mit drei Vorträgen beehren darf. Dort ist ebenfalls der Dritte im Bunde: Ernst Cassirer, mit welchem Heidegger ein Streitgespräch führen sollte. Cassirer war ein origineller Vertreter des Neukantianismus, der in dieser besonderen Dekade seine drei Bände „Philosophie der symbolischen Formen“ zu Papier gebracht hatte.

Martin Heidegger, welcher die Welt von Kant und dessen Dualismus erlösen wollte, trifft auf einen Neukantianer, besser gesagt: Auf den damaligen Neukantianer schlechthin, den Herausgeber der Werke Kants und führenden Kantkenner dieser Zeit. Martin Heidegger ging es um das Ganzheitliche, um das eigentliche Leben, um den Moment, in welchem der Einzelne aufsteht und die Welt auf den Kopf stellt, um Revolution vom uneigentlichen Leben, also vom reinen Existieren des bürgerlichen Lebens zu jenem Umbruch, in welchem der Mensch ganz er selbst ist im praktischen Tun und Handeln. Seine kometenhafte Karriere ist geradezu Sinnbild für seine Philosophie. Dagegen steht Ernst Cassirer für das bürgerliche Leben, den langsamen Aufstieg, bei welchem er durch harte philosophische und schriftstellerische Arbeit Stufe um Stufe erklimmt. So sieht er auch die Kultur als etwas, was sich langsam Schritt für Schritt entwickeln und verändern soll.

Das vierte Kleeblatt ist ein besonderer Fall. Vor diesem Buch wusste ich noch nichts von Walter Benjamin. Die drei übrigen waren mir zumindest in groben Zügen bekannt, doch auch nach dem Buch blieben mir Zweifel, inwiefern Benjamin tatsächlich in den Kreis der drei übrigen gehört. Gewiss, er hatte seinen eigenen eigenständigen und durchaus auch sehr eigenwilligen Beitrag zur Sprachphilosophie geleistet (zumindest für jene, welche ihn und seine Gedanken kennen), doch ob das allein ausreichend ist, um ihn auf jene Ebene zu heben, für welche die drei Übrigen stehen, bleibt fraglich. Auch bei ihm steht das Leben für seine Philosophie, die Zerrissenheit zwischen den Extremen wird für Benjamin zum geradezu Erstrebenswerten der Philosophie.

Das Buch ist spannend geschrieben, enthält jedoch immer wieder Sprünge und Brüche, die sich zwar durchaus philosophisch deuten ließen, den Lesefluss jedoch beeinträchtigen und den Leser verwirren. Die Vergleiche sind interessant, und doch wird man das Gefühl nicht los, dass immer wieder Dinge vereinfacht werden, damit sie einander noch besser gegenüber gestellt werden können. Die vier Philosophen sind eigentlich so verschieden, dass sie auch mit dem Begriff der Sprachphilosophie nicht auf einen Nenner gebracht werden können – schließlich hätten sie schon Mühe, sich auf eine gemeinsame Definition jener zu einigen. Und das wäre die Grundlage für jeden sinnvollen Vergleich.

Kleine Nebenbemerkung: Ende Februar diesen Jahres hat Eilenberger einen spannenden Essay zum Stand der deutschsprachigen Philosophie in unserer Zeit geschrieben: Wattiertes Denken (Link)

Fazit:

Ein lesenswertes Buch, besonders wenn man die Protagonisten schon kennt. Leider manchmal zu verallgemeinernd und vereinfachend. Ich gebe dem Buch vier von fünf Sternen.

Buchtipp: Die RAF hat Euch lieb

Die RAF hat euch lieb von Bettina Roehl

Röhl, Bettina, Die RAF hat Euch lieb, Wilhelm Heyne Verlag München, 2018, 640 Seiten, Verlagslink, Amazon-Link

Vielen Dank an den Verlag für das Rezensionsexemplar dieses Buches.

50 Jahre Ausnahmezustand, 50 Jahre Protestiererei und kein Ende in Sicht. Dies ist das Fazit, das Bettina Röhl in ihrem Buch aus ihrer Beschäftigung mit der RAF zieht. Wie schon der erste Band „So macht Kommunismus Spaß“ ist auch dieses Buch nicht so leicht einem Genre zuzuordnen. Es ist wieder eine Mischung aus Biographie, Autobiographie, Geschichtsschreibung und journalistischen Beiträgen. Negativ aufgefallen ist mir vor allem eine gewisse Anzahl von Flüchtigkeitsfehlern was die Rechtschreibung betrifft. Da hätte eine weitere Durchsicht durch ein Lektorat nicht geschadet.

Die Autorin beleuchtet mit vielen originalen Quellen und auch zahlreichen Transkriptionen von Interviews, die sie mit Beteiligten von damals führte, die Zeit von 1967 bis 1972. Es gibt am Ende noch einen kurzen Abstecher in 1974 und wenige Sätze zum Tod ihrer Mutter 1976, aber diese Zeit wird wohl im dritten Band ausführlicher abgedeckt werden, wenn es um die Zeit bis zur Bundeskanzlerwahl Helmut Kohls gehen soll. Auch hier wird wieder schnell sichtbar, dass es sich unter anderem auch um eine Suche nach sich selbst geht, es ist eine Auseinandersetzung mit ihrer Mutter, der RAF-Terroristin Ulrike Meinhof und deren Umfeld im Zuge der 68er-Bewegung in Deutschland.

Es ist ein wichtiges Buch, vor allem deshalb, weil es mit vielen sich hartnäckig haltenden Legenden aufräumt. Bis heute versuchen viele Menschen, den Zustand des Protests als notwendig und richtig vorauszusetzen. Protestler werden zu Helden stilisiert, dabei handelt es sich lediglich um kriminelle Terrorbanden, die gegenüber der Polizei keinerlei moralische Rechtfertigung für ihr Handeln erbringen können. Röhl fragt sehr treffend dazu: „Warum wollte diese im Wohlstand aufgewachsene Generation das System, den Kapitalismus, die Bundesrepublik zerstören und den Menschen, die ihr Glück in dieser Bundesrepublik machen wollten, das Paradies rauben und einen nebulösen ‘neuen Menschen’ kreieren, der sie selber in keiner Weise waren?“ (S. 37)

Im Laufe des Buches werden einige Gründe genannt, und ich bin der Meinung, dass Röhl auch hier nicht alle Gründe erkennt, die zu diesem Phänomen des Protestismus geführt haben. In einem behält sie jedoch absolut recht: Protest um jeden Preis kam irgendwann in den Sechzigerjahren in Mode und ist bis heute in Mode geblieben, ein Ende ist nicht in Sicht. Und jedes Jahr wird eine neue Protest-Sau von einer anderen Gruppierung, die gerade oben schwimmt, durchs Dorf getrieben. […] Wer das Protestgefühl am kreativsten, brutalsten, geschicktesten oder prominentesten anzusprechen weiß, wer den richtigen Riecher hat, was wieder zieht, hat die größten Chancen, mit seiner Protestidee Furore zu machen, die Medien zu gewinnen und moralisch, sozial, finanziell bis hin zur Würdigung von Bürgermeistern, Regierungschefs, Chefredakteuren, Gewerkschaften, bekannten Schauspielern und anderen öffentlichen Persönlichkeiten den neuen Protesthit zu landen.“ (S. 79)

Das Buch von Bettina Röhl gliedert sich in drei Teile. Im ersten Teil geht es um die APO-Bewegung, Rudi Dutschke, Benno Ohnesorg, und die Eltern der Autorin, welche durch die Zeitschrift „konkret“ in dieser Bewegung mitmischten. Im zweiten Teil wird die Gründung der RAF beschrieben und im dritten Teil vor allem mit den zahlreichen Legenden um Ulrike Meinhof aufgeräumt. Spannend fand ich besonders auch die Schilderung der Entführung der beiden Röhl-Zwillinge – erst nach Sizilien, und später eine zweite Entführung wieder nach Deutschland zurück. Weil die RAF-Terroristin Ulrike Meinhof nicht wollte, dass ihre Töchter zu ihrem Exmann Klaus-Rainer Röhl ziehen, ließ sie die beiden über die grüne Grenze in ein sizilianisches Barackenlager entführen. Der Plan war, dass die Töchter später in ein palästinensisches Waisenhaus kommen sollten. Zum Glück kam der Journalist Stefan Aust gerade noch rechtzeitig, um die Beiden abzuholen und wieder zurück nach Deutschland zu bringen, bevor Ulrike sie von Sizilien in palästinensisches Gebiet verfrachten konnte.

Die große Frage, die bleibt, betrifft die Notwendigkeit und die Bewertung von 68. Hier bin ich mit der Autorin nicht ganz einig, wenngleich ich ihre Sichtweise gut nachvollziehen kann. Ich denke allerdings, dass man das Ganze etwas differenzierter sehen sollte. Es ist insofern verständlich, als dass sie, die ja so viel Schreckliches durch diese Ideologie erlebt hat, sich durch ihre Bücher deshalb auch autobiographisch ein wenig an der Bewegung abarbeitet. Doch meine ich, dass besonders drei Gesichtspunkte zu kurz kommen. Der technologische Fortschritt, welcher damals die ganze Welt ins Wohnzimmer gebracht und die Konsumenten mit Inhalten überfordert und hilflos gemacht hat, ist mit ein Grund. Die Bewegung von ’68 war eine mögliche Reaktion auf die Reizüberflutung durch diese Massenmedien, die zu jenem Zeitpunkt in sehr vielen Familien Einzug gehalten haben. Zweitens waren die ’68er eine Bewegung, für die der Boden in gewisser Weise bereitet war. Die schrecklichen Geschehnisse im Zuge des 2. Weltkriegs haben Verunsicherung geschaffen und unter der jungen Generation gerade in Bezug auf Vietnam, China, UdSSR, DDR, etc. zu einer einseitigen Blindheit geführt. Last but not least ist die Antwort der Autorin auf die Frage der Bewertung dieser Zeit näher an der Bewegung selbst, denn sie gibt eine säkulare Antwort auf eine säkulare Bewegung. Meines Erachtens macht die fehlende biblisch-theologische und heilsgeschichtliche Einordnung dieser Zeit eine objektive Bewertung unmöglich. Nichtsdestotrotz ist es ein enorm lesenswertes Buch, das einen tiefen Einblick in das Leben ihrer Familie und damit ins Zentrum der 68er-Bewegung gibt.

Fazit:

Ein weiteres sehr gut recherchiertes Buch von Bettina Röhl über ihre Familie, die 68er-Bewegung und die RAF. Am Ende bleiben Fragen offen, aber insgesamt kann ich es jedem weiter empfehlen, der sich für diese Zeit interessiert. Ich gebe dem Buch fünf von fünf Sternen.

„Wotsch en Brief, so schryyb en Brief“

(„Willst du einen Brief, so schreibe einen Brief“)
So hieß es in meiner Kindheit, wenn ich den Briefkasten leerte und es schade fand, dass da nebst der Zeitung oft nur Rechnungen und Werbung ins Haus flatterte. Kürzlich habe ich mich mit einem Freund darüber unterhalten, wie die Briefsammlungen in Zukunft wohl aussehen werden. 20 Bände mit einzeiligen eMails, SMS, WhatsApp-Nachrichten und Facebook-Messages? Eine schreckliche Vorstellung. Aber gar nicht so abwegig. Und doch sind es oft gerade die Briefsammlungen, die ich so wertvoll finde. In den Briefen der Reformatoren und auch anderer wichtiger Persönlichkeiten finden sich die Personen ganz authentisch. Als ich im Studium auf die von Rudolf Schwarz herausgegebene Sammlung von Briefen Johannes Calvins stieß, war das traumhaft, denn da konnte man den Mann hinter der Institutio in all seinen Schwierigkeiten, Erbitterung, Schmerzen und Problemen, aber auch in seinen Freuden und Siegen erleben. In den Briefen werden viele Dinge klarer und besser sichtbar, weil sie die Veränderungen des Menschen beschreiben. Selbst dann, wenn sich dieser dessen gar nicht bewusst ist. Große Persönlichkeiten haben schon immer große Freundschaften gepflegt und sind nicht selten erst durch diese Freundschaften zu dem „geschliffen“ worden, was sie später waren.
Wir leben in einem Zeitalter der sofortigen Befriedigung. Wenn wir etwas wissen wollen, so sind wir nicht mehr bereit, Wochen auf die Antwort zu warten. Die Zeit der sofortigen Befriedigung hat ihren Anfang mit dem Telegraphen genommen, als es erstmals möglich war, Informationen schneller als Menschen zu befördern. Dann kam das Telephon. Heute haben wir durch das Internet einige weitere Medien, die uns diese schnelle Befriedigung gewähren. Dadurch geht nicht nur die Geduld verloren, sondern auch ein Teil des Menschseins an sich. Die Information wird entpersönlicht, da sie vom Menschen als Medium losgekoppelt und stattdessen durch unpersönliche Medien weitergegeben wird. Die Handschrift mit ihrer jeweils persönlichen Note geht verloren; alles kann nach Vorlage XY formatiert werden. Der vielleicht einzige Unterschied ist noch die Anzahl an Fehlern der Grammatik; aber auch diese können dank entsprechender Software größtenteils eliminiert werden.
In meiner Kindheit und frühen Jugend hatte ich im Laufe der Jahre insgesamt sechs Brieffreundschaften. Zwei davon wurden über die Grundschule vermittelt, wo wir als ganze Klasse mit einer anderen Klasse in Deutschland einen solchen Briefaustausch pflegten. Eine entstand durch eine Flaschenpost, die ich beim Tretbootfahren aus dem Lago di Lugano gezogen habe. Die drei anderen kamen dadurch zustande, dass ich auf Anfragen in einer Kinderzeitschrift antwortete. Alle sechs haben mir sehr viel gebracht; und alle sechs wurden dadurch beendet, dass plötzlich keine Antwort mehr kam. Auch auf mehrere Nachfragen war Funkstille. Das war schade, denn es zeugt von der Wegwerfgesellschaft, in der wir leben. Menschen werden solange gebraucht, wie sie einem genug Wertvolles geben. Sobald etwas anderes wertvoller wird und die Zeit fehlt, lässt man bisherige Menschen fallen. Oft auch, ohne das selbst zu sagen; einfach nur durch Ignorieren.
Ich frage mich immer mal wieder, ob es so etwas wie eine richtige Brieffreundschaft mit handgeschriebenen Briefen, Briefmarken, Umschlägen und der Freude am Briefkasten noch gibt. Meinem Sohn wünsche ich, dass er diese Freude eines Tages auch erleben darf.

Wie können wir denn im postfaktischen Zeitalter leben?

Ich habe bereits vor einer Weile gezeigt, dass wir nicht die ersten sind, die in einem postfaktischen, postdemokratischen und postliberalen Zeitalter leben. Heute möchte ich noch einen Schritt weiter gehen und nach möglichen Antworten auf diese Frage suchen, wie man in einem solchen Zeitalter leben kann. Ich mache gleich zu Beginn zwei wichtige Unterscheidungen. Es gibt zwei mögliche Arten von Antworten auf diese Frage. Eine Art befindet sich innerhalb des Bereichs der allgemeinen Gnade und eine Art innerhalb der speziellen Gnade. Was ist der Unterschied? Die allgemeine Gnade ist die Art, wie Gott unsere Welt lenkt und jeden Menschen und die gesamte Schöpfung segnet. Allgemeine Gnade ist, dass jeder Mensch ein Gewissen hat. Durch das Gewissen wird jeder Mensch davon abgehalten, so schrecklich zu handeln, wie er könnte, wenn er das Gewissen nicht hätte. Zur allgemeinen Gnade gehört, dass Gott die Naturgesetze aufrecht erhält, dass nach dem Regen wieder Sonne, nach der Nacht wieder Tag und nach dem Winter wieder Sommer kommt. Zur allgemeinen Gnade gehört auch, dass es Staaten gibt, die ebenfalls dazu beitragen, dass nicht jeder tun und lassen kann, was ihm gerade in den Sinn kommt, da der Staat dazu Gesetze schafft, die uns in Erinnerung rufen, dass nicht alles erlaubt ist und die uns vor dem Unerlaubten abschrecken. Zur allgemeinen Gnade zählt auch, dass jeder Mensch in der ganzen Schöpfung Gott erkennen kann, aber auch die Freiheit hat, diese Erkenntnis abzulehnen und zu unterdrücken. Zur speziellen Gnade hingegen zählt alles, was Gott denen verspricht, die an Ihn glauben, die von Neuem geboren sind. Aus dem Blickwinkel der speziellen Gnade ist die Antwort auf unsere Frage eindeutig: Was wir brauchen, ist Erweckung, denn dort, wo viele Menschen zum lebendigen, heiligenden und umgestaltenden Glauben kommen, verändert sich auch die jeweilige Gesellschaft zum Guten.
Aber was ist, solange es noch keine solche Erweckung in unserer westlichen Welt gibt? Kann es da eine Antwort geben, die auch aus der Sicht der allgemeinen Gnade zum Guten führt? Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass es auf jeden Fall gute Ansätze gibt, die man überdenken und weiterentwickeln kann. In der Zeit des griechischen Postfaktizismus war es zum Beispiel der Philosoph Aristoteles, der sich darüber Gedanken machte, wie man in dem Zeitalter leben könne. Aristoteles kam zum Schluss, dass die Tugend etwas besonders Wichtiges ist. Doch was ist Tugend genau? David F. Wells beschreibt das in seinem Buch „Losing Our Virtue“ sehr gut. Ich versuche, mit eigenen Worten kurz zu fassen, was Wells als Tugend herausarbeitet. Es gibt im Leben drei Arten von Bereichen. Ein solcher Bereich wird vom Staat mit seinen Gesetzen abgedeckt. Mord und Diebstahl werden durch Gesetze verboten. Das ist der erste Bereich. Auf der anderen Seite gibt es den Bereich der persönlichen Freiheit. Ich kann mich frei entscheiden, ob ich am Abend noch ein Buch lesen, auf Facebook chatten oder einen Film anschauen will. Da hat der Staat nichts festzulegen. Und dazwischen gibt es einen Bereich, der eigentlich durch die Tugend abgedeckt wurde. Die Tugenden sind Leitlinien, die das zwischenmenschliche Miteinander ermöglichen sollen. Höflichkeit ist eine Tugend, die früher in den Familien einen hohen Stellenwert besaß. Es war schwierig, unhöflich zu sein, denn die Menschen waren ihrer Gemeinschaft ein Stück weit ausgeliefert, man konnte nicht einfach so schnell umziehen und woanders eine neue Existenz aufbauen. Wer geizig war, wurde gemieden. Und so weiter. Die Strafe für untugendhaftes Verhalten kam ziemlich automatisch aus der Gesellschaft, in der man lebte. Diese Tugend ist heutzutage verloren gegangen. Zwischen den staatlichen Gesetzen und der persönlichen Freiheit ist ein Vakuum entstanden, um das sich nun die beiden Extreme, Staat und persönlicher Egoismus, streiten.
Aristoteles stand einem ähnlichen Problem gegenüber. In seiner Zeit waren es Sophisten, die eine Lehre vom Leben verbreiteten, die unserer Zeit in gewissen Punkten gleichen. Sie waren der Meinung, dass es keine absolute Wahrheit gebe. Alles sei relativ. Wahrheit sei das, was die besten Rhetoriker durch ihren besten Reden verkündeten. Heute ist Wahrheit das, was jene Minderheiten verkünden, die sich als am meisten unterdrückt darstellen können. Auch das ist eine Form der Rhetorik. Für die Sophisten war der Mensch das Maß aller Dinge. Auch heute klingt es ähnlich: Der Mensch würde seine Realität kulturell selbst konstruieren, und zwar so, dass die Konstrukteure der Realität jeweils die meiste Macht erhielten.
Aristoteles beginnt seine Untersuchung der Ethik mit etwas, was uns auch heutzutage sehr bekannt scheint. Er fängt mit der Feststellung an, dass alle Menschen nach Glück streben. Dazu muss er aber definieren, was Glück ausmacht. Er definiert Glück mit dem richtigen Handeln und richtigen Leben. Das höchste Gut im Leben, das was das Glück ausmacht, ist zugleich aber auch das höchste Ziel im Leben. Aristoteles sagt das ungefähr so: Jeder Mensch hat viele Ziele. Manche Ziele suchen wir für uns selbst, manche auch für andere Menschen, das höchste Ziel hingegen suchen wir um dieses Zieles willen. Und hier muss Aristoteles, aber auch jeder andere Mensch, der versucht, eine Begründung für sein Leben und Handeln außerhalb von Gott zu suchen, auf einen Zirkelschluss zurückgreifen. Die einzige Ethik, welche letztlich ohne einen solchen auskommt, ist die Ethik der Bibel, denn sie kann sich auf die unfehlbare Offenbarung Gottes verlassen.
Jeder Mensch strebt nach Glück. Glück bedeutet richtiges Leben und richtiges Handeln. Glück will der Mensch, um glücklich zu sein, und nicht um damit noch etwas anderes zu erreichen. Die Tugend ist dieses richtige Leben und richtige Handeln. Doch was gehört zu dieser Tugend dazu? Zwei Dinge: Erstens die Vernunft und zweitens das dieser Vernunft gemäße Handeln. Jeder Mensch hat im Leben bestimmte Aufgaben. Er hat einen Beruf, er hat Familie, er läuft an bestimmte Situationen heran, etc. und immer und überall steht er da als Mensch mit bestimmten Aufgaben. Nun gibt es nach Aristoteles viele Momente, in denen man nicht einfach sagen kann: Dann muss jeder die Handlung XY tun. Wer abends in Frankfurt an eine Schlägerei läuft, sollte nicht zwingend eingreifen, denn es könnte sein, dass er mit einem Notruf besser gehandelt hat. So kann die Aufgabe je nach Person ganz unterschiedlich aussehen. Einer ist handwerklich begabt, ein anderer eher intellektuell. Da haben nicht beide dieselbe Aufgabe im selben Moment, sondern wenn jeder mit seinem besten Können mithilft, wird die Sache im Endeffekt besser. Tugend ist nach Aristoteles die Mitte zwischen zwei Extremen:
Feigheit – Tapferkeit – Tollkühnheit
Geiz – Großzügigkeit – Verschwenderei
Schmeichelei – Freundlichkeit – Streitsucht

Sehr viele Tugenden lassen sich in diese Dreiteilung eingliedern. Die „Mitte“ bedeutet bei Aristoteles aber nicht 50%. Das kann sein, muss aber nicht. Es kommt jeweils auf die Situation an. Deshalb braucht es auch den Verstand dazu, der einem hilft, zwischen diesen Extremen zu entscheiden. Und dann gibt es auch noch Tugenden, die keine Mitte haben. Es gibt keine Mitte zwischen Mord und am Leben lassen. Oder keine Mitte zwischen Treue und Ehebruch. Deshalb sind Mord und Ehebruch immer zu verurteilen. Ein weiterer wichtiger Punkt ist auch, dass diese Tugend immer etwas mit unserem Willen, mit einer festen Entscheidung zu tun hat. Ich glaube, das ist in unserer Zeit ebenso wichtig zu sagen wie es damals zur Zeit Aristoteles’ war. Wir leben in einer Zeit, in welcher diese Entscheidungen verpönt sind. Eine Entscheidung für etwas bedeutet immer 1000 Entscheidungen gegen mögliche Alternativen. Als ich meine Frau heiratete, habe ich mich gegen Milliarden anderer Frauen entschieden. Aber wer sich nicht entscheidet, bekommt die Rechnung bald, denn dann entscheiden die Umstände für uns und wir müssen mit ihnen klarkommen. Tugend muss entschieden werden, weil sie das Gegenteil des instinktiven Handelns ist.
Doch wie kommen wir dorthin? Uns fehlt die Gesellschaft, die uns für die Untugend straft. Wir können jederzeit fliehen, jederzeit an einem neuen Ort eine neue Existenz aufbauen. Da braucht es unseren Willen, das zu durchdenken. Es braucht auch eine neue Erziehung zur Tugend. Ethik hat eine ganze Menge mit Erziehung zu tun. Der Grundsatz dafür muss lauten, dass es Richtig und Falsch gibt. Dass Richtig und Falsch nicht in den Extremen zu finden ist. Und dass der Mensch eine Vernunft bekommen hat, die ihm dabei hilft. Soviel zu einer Ethik der allgemeinen Gnade. Wichtig bleibt der Hinweis, dass alle Ethik niemanden zu Gott bringt. Dorthin führt nur ein Weg, eine Wahrheit und ein Leben – Jesus Christus. 

Christenheit am Scheideweg

Ich bin mir bewusst, dass der Titel etwas großspurig klingt. Möglicherweise ist er auch zu großspurig. Ich halte mir damit die Option offen, eines Tages sagen zu können: OK, da hab ich übertrieben, aber zumindest habe ich versucht, ein notwendiges Korrektiv in die Diskussion einzubringen. Manchmal ist Übertreibung ein Hilfsmittel, das uns zusammen mit der Vereinfachung komplexe Zusammenhänge besser sehen lässt.
Bevor ich fragen möchte, wo wir als westliche Gesellschaft insgesamt stehen, möchte ich innehalten und fragen, wo ich stehe. Ich bin ein Nachpostmoderner. In der Postmoderne bin ich aufgewachsen und dann ist sie gestorben. Für mich und eine große Mehrheit der Gesellschaft. Wir stehen jetzt in der Nachpostmoderne. Eine Seifenblase ist geplatzt und hat ein ganzes Weltbild mit in den Abgrund gerissen.
Moment mal, werden jetzt manche einwerfen, die Postmoderne hat sich gerade durch die Kritik des Weltbildismus ausgezeichnet! Das stimmt, aber nur bedingt. Nicht nur in der Kritik bestehender Weltbilder, sondern auch in weiteren Aspekten hat sie wiederum neue Weltbilder geschaffen. Sie hat nicht nur Ideologien kritisiert, sondern mit dieser Kritik im Grunde neue Ideologien hergestellt. Auch das war ein Grund, weshalb sie total gescheitert ist. Sie hat sich selbst widerlegt. Sie ist von ihren Kindern gefressen worden. Sie hat – philosophisch gesprochen – Suizid begangen, indem sie sich Stück für Stück aufgefressen und von innen nach außen gestülpt hat.
Für manche Denker muss ich spätestens jetzt noch eine Frage beantworten: Gab oder gibt es tatsächlich so etwas wie die Postmoderne? Oder ist die Postmoderne einfach eine extreme Ausprägung der Spätmoderne? In der Tat gibt es für beide Sichtweisen gute Argumente. Grundsätzlich stellt sich da die Frage, ab welchem Moment der Veränderung es berechtigt ist, einen neuen Begriff einzuführen. Man könnte auch problemlos dafür plädieren, dass es nie eine Aufklärung gegeben habe, sondern diese lediglich ein Ausdruck des Spätmittelalters gewesen sei. Insofern ist jeder neue Begriff, der eine Zeit bezeichnet, eine künstliche (aber oft hilfreiche) Unterscheidung. Wir könnten uns heute spätspätspätmittelalterlich nennen. Die Frage ist nur: Was bringt das? Postmodernismus ist in dem Sinne aber auch keine eigene Epoche; den Begriff der Epoche sollten wir etwas weniger inflationär gebrauchen. Die Postmoderne war ein kurzes Interludium; eine Sackgasse, aus der wir nun wieder herausfinden müssen.
Verzweiflung hat zur Postmoderne geführt und Verzweiflung ist, was bleibt, da sie nun von uns geschieden ist. Sie hat versucht, ein Korrektiv zum weit ausgeschwungenen Pendel der Moderne zu sein, indem sie nicht nur gebremst hat, sondern das Pendel zerstören wollte. Der Optimismus der Moderne, die Allmacht des Menschen hat in zwei unvorstellbar schrecklichen Weltkriegen tödliche Kernexplosionen abbekommen. Die Moderne hat den Menschen mit seiner Vernunft und deren sichtbarem Ausdruck in Sprache, Schrift und der ganzen Kultur vergötzt. Wohin diese Vergötzung geführt hat, ist in einer großen Menge des Leids in dieser Welt sichtbar geworden. Anstatt die Kultur in gute Bahnen zu führen, war die Verzweiflung zu groß und hat in der Postmoderne versucht, die Kultur zu überwinden. Alle Errungenschaften der Kultur wurden unter Generalverdacht gestellt und konstruktivistisch zerstört.
Damit wären wir beim Herzstück des postmodernen Weltbilds angelangt. Alles, was in der Moderne wichtig oder wertvoll war, durfte nur dem einen Zweck gedient haben, um die Mächtigen an der Macht zu halten. Die Sprache muss von Grund auf verdächtigt werden, denn sie sei ja schließlich von einer patriarchalischen Gesellschaft entwickelt und raffiniert angepasst worden. Das geschichtliche Denken muss unter Verdacht gestellt werden, weil Geschichte immer aus der Sicht der Siegermächte interpretiert werde. Die Logik und Vernunft haben zu Massenvernichtungswaffen geführt, weshalb sie suspekt sind. Was bleibt, ist eine romantische Innerlichkeit, eine relativistische Haltung gegenüber allen Absoluten außer dem Relativismus selbst. Vergessen ist plötzlich, wie nicht nur die Vernunft zum „Dritten Reich“ geführt hat, sondern in erster Linie eine solche romantische Innerlichkeit, die sich mit den Begriffen des Volks und der Rasse aufgeladen haben. Hitler war ein Mensch, der von Gedanken der Romantik geformt war und zudem das Unglück hatte, in einer Zeit und Gesellschaft zu leben, in welcher die Vernichtungswaffen so weit entwickelt waren. Dabei darf jedoch die Romantik keinesfalls abgewertet werden. Sie hat in vielen Aspekten zu einer geistigen und auch geistlichen Befruchtung der Gesellschaft geführt. In der affirmativ-kritischen Auseinandersetzung mit der Romantik lässt sich eine Menge für unsere Zeit lernen. Doch Geschichtsvergessenheit im Zusammenspiel mit neuen Absoluta wie des ethischen Relativismus und einer falsch verstandenen Toleranz ergeben eine explosive Mischung.
Und genau hier setzt die wichtigste Frage unserer Zeit an: Wohin schreitet der Westen nach dem Tod des Postmodernismus? Wir leben in dieser spannenden Zeit, in welcher neue Weichen gestellt werden. Es ist eine Zeit der Verzweiflung und Verwirrung, in welcher der Durcheinanderbringer viel Macht hat, es sei denn, das Christentum wird sich wieder bewusst, dass es eine Gegenkultur zu dieser Verzweiflung und Verwirrung sein soll. Ebenso klar ist aber auch, dass die Welt keine Antworten auf diese verwirrende und Verzweiflung fördernde Zeit finden wird, bis sie diese vom Christentum bekommt und dadurch verändert wird. Das ist möglich, denn es gab diese Zeiten auch schon mehrfach. Diese nennt man auch Erweckungen.
Das Gefährliche an unserer Zeit ist, dass viele Christen hoffen, dass die Welt ihnen die Antworten geben kann. Man schaut mit Hoffnung auf die Wahlen und Parteien und sucht so, Einfluss zu nehmen. Zugegeben: Es gab schon vereinzelt Zeiten, in welchen das eine gute Möglichkeit war. In unserer Zeit sind sich jedoch nicht einmal die Personen innerhalb einer Partei einig, worin das Problem besteht und wie es gelöst werden kann. Noch nicht einmal in groben Zügen. Geschweige denn, dass sie das Problem richtig erkennen.
Wir haben gesehen, dass wir in einer explosiven Zeit leben. Inzwischen hat die Industrie die Massenvernichtungswaffen weiter verfeinert, ausgebaut und aufgerüstet. Es herrscht Verzweiflung und Verwirrung. Geschichtsvergessenheit vermischt sich mit einem romantischen Verständnis einer verabsolutierten Toleranz und ethischem Relativismus. In gewisser Weise ähnelt unsere Zeit den Jahren nach der französischen Revolution. Damals war die Monarchie abgeschafft und eine Art Anarchie herrschte, also der Stärkere gewinnt. In unserer Zeit ist es auf geistiger Ebene ähnlich. Die Monarchie der Sprache und des Verstandes ist abgelöst, es herrscht die Anarchie des Relativismus. Der Stärkere gewinnt – wobei das gewissermaßen umgekehrt ist. Jetzt gewinnt der Schwächere, wenn er mehr Diskriminierungen vorweisen kann, wodurch er dann wiederum paradoxerweise zum Stärkeren wird.
In dieser Zeit kann uns nur noch Gott allein vor der entfesselten Gewalt bewahren. Wie im Zuge der Nachwehen der französischen Revolution werden Stimmen nach einer starken Führung laut. Auch in der Weimarer Republik war es lange Zeit geradezu spürbar, dass da ein Brausen und Umsturz der Lage kommen musste. Was heute mehr denn je nötig ist, sind Christen, die zusammenstehen, beten und eine Gegenkultur der Hoffnung und Ermutigung in dieser Zeit der Verzweiflung und Verwirrung bilden. Die Rettung wird nicht von der Politik kommen (und da bin ich wohl der Letzte, der die Politik als unwichtig abtun würde). Es ist wichtig, dass Christen sich an der Politik beteiligen, aber dadurch wird keine Rettung kommen. Die Rettung wird auch nicht durch Murren über die momentane Situation kommen, auch nicht durch Anpassung an die Welt, sondern einzig und allein durch Gottes gnädiges Eingreifen – oder gar nicht.
Ich glaube an Gottes Eingreifen und möchte zum Schluss noch ganz kurz ein paar Schritte auf einem gangbaren Weg dorthin beschreiben. Ich möchte die Herangehensweise dazu „gesunden kritischen Realismus“ nennen. Realismus bedeutet, dass es „da draußen“, also außerhalb von uns, eine tatsächliche Realität gibt, die man adäquat wahrnehmen kann. Kritisch deshalb, weil wir nicht davor gefeit sind, Irrtümern auf den Leim zu gehen und auch weil wir nicht alles, was in der Realität vorhanden ist, mit unseren fünf Sinnen wahrnehmen können. Das erklärt auch den Begriff „gesund“, weil dieser kritische Realismus die Möglichkeit der unsichtbaren Welt und von tatsächlichen, echten Wundern mit einschließt.
Ein solcher gesunder kritischer Realismus ist deshalb der „dritte Weg“, den es nebst dem reinen Materialismus und einem subjektiven Idealismus gibt. Dieser dritte Weg geht von davon aus, dass die Bibel tatsächlich Gottes Wort ist und deshalb über dem Menschen und seiner Erfahrung steht. Sie ist somit der Referenzpunkt, an dem sich alles Wissen, Erkennen und Handeln objektiv ausrichten kann. Das bedeutet aber auch, dass Christen der Bibel und dem Gott der Bibel vertrauen dürfen und mit dem Selbstverständnis dieses Vertrauens in die Welt hinausblicken. Wichtig ist dabei, dass wir wieder viel Wert auf die gesunde Lehre, auf Apologetik und ein erneuertes bibeltreues Denken und Philosophieren legen. Der evangelikale Anti-Intellektualismus hat viele Probleme verursacht. Ebenso der Versuch, unterschiedliche inhaltliche Positionen durch den Wortlaut offizieller Dokumente zu „versöhnen“, indem Unterschiede so lange sprachlich mit der Dampfwalze geplättet werden, bis sich alle Parteien verstanden fühlen können.
So dürfen wir mit Mut und einem festen Standpunkt als Christen in die Welt schauen, gehen und sprechen. Wir haben eine prophetische Aufgabe – was immer kommen mag. Wir dürfen Gott um ein Eingreifen bitten. Wir dürfen die absolute Wahrheit, Fehlerlosigkeit und Autorität von Gottes Wort festhalten und als Referenzpunkt für die Beurteilung der Welt gebrauchen. Wir dürfen die Hoffnung weitergeben, dass dieses Leben auf der Erde nicht alles ist, sondern dass der Herr Jesus als gerechter Richter wiederkommen wird und es nach diesem für alle, die Ihm nachfolgen, ewige Gemeinschaft in der Herrlichkeit Gottes gibt. Gerade deshalb ist es für jeden einzelnen Menschen wichtig, diese Botschaft von Jesus Christus in diesem Leben auf der Erde zu hören und darauf zu reagieren, denn danach wird es für alle Ewigkeit zu spät sein.
Und dann brauchen wir ganz dringend christliche Bildung. Kindergärten, Schulen, Gymnasien, Universitäten. Wir dürfen dieses Feld niemals den Vertretern der atheistischen Ideologie überlassen. Unsere Kinder sind unsere Zukunft. In Jesus sind alle Schätze der Weisheit und Erkenntnis verborgen, und ohne Ihn kann diese niemand bergen. Wahre Erkenntnis kann nur von Ihm ausgehen. Dafür wollen wir kämpfen. Bis zum letzten Atemzug.Nancy Pearcey hat dazu geschrieben:
Wir müssen sichergehen, dass, wenn unsere Kinder das Haus verlassen, dieselbe Überzeugung tief in ihr Gedächtnis eingebrannt ist – dass das Christentum fähig ist, wenn es auf dem Marktplatz der Ideen herausgefordert ist, in sich zu verhalten. Es reicht nicht, junge Gläubige einfach zu lehren, wie man eine persönliche „Stille Zeit“ hält, wie man ein Bibellernprogramm befolgt und wie man mit einer christlichen Gruppe auf dem Campus Verbindung aufnimmt. Wir müssen sie auch darin anleiten, wie man auf intellektuelle Herausforderungen antwortet, die ihnen im Schulzimmer begegnen werden. Bevor die das Haus verlassen, sollten sie mit all den „-ismen“ wohlbekannt sein, vom Marxismus zum Darwinismus bis zum Postmodernismus. Es ist am besten für junge Gläubige, wenn sie von diesen Ideen zuerst von den vertrauten Eltern, Pastoren oder Jugendleitern hören, welche sie in den Strategien trainieren können, um die konkurrierenden Ideologien analysieren zu können.“(Pearcey, Nancy, Total Truth, S. 125, Übersetzung von mir)

Je suis moi-même – ich bin ich selbst!

Erst ist man „Charlie“, etwas später ist man „Niger“, dann ist man auch noch „Juif“ und plötzlich ist man jede Woche etwas Neues. Zunächst mal so viel: Es ist wichtig, dass man sich mit den Dingen auseinandersetzt, die Tag für Tag in der Welt geschehen. Gerade als Christ habe ich den Auftrag: „Freut euch mit den Fröhlichen und weint mit den Weinenden!“(Römer 12, 15) Das ist ein ganz dringender Auftrag, ein Befehl Gottes, der an mich persönlich gerichtet ist. Mich berührt es deshalb zutiefst, wenn ich vom Pariser Attentat oder dem Terror durch Boko Haram oder die Verfolgungen und Brandstiftungen im Niger lese. Das geht mir nahe.
Und ich bin gerade deshalb, weil es mir nahe geht, auch schnell versucht, Solidarität ausdrücken zu wollen. Das geht ganz schnell, indem ich mein Profilbild auf Facebook wechsle und den Hashtag „#JeSuisCharlie“ benutze. Dann gehöre ich auch dazu. Dann darf ich mich zu der großen Menge der Empörten zählen. Dann hab ich was Gutes getan, ich bin ein Held, ich kämpfe gegen das Unrecht. Ich habe „meine Stimme erhoben“.
Täglich bekomme ich im Schnitt etwa zwei bis drei eMails, die von mir wünschen, dass ich eine Petition unterschreibe. Ich habe im Thunderbird inzwischen einen Spezialordner eingerichtet, in dem alle Online-Petitionen via Schlagwortsuche automatisch abgelegt werden. Etwa einmal im Monat überfliege ich die Themen der Petitionen und lasse rund 99% davon im Mülleimer landen. Man darf sich jetzt über mich aufregen, das ist ok. Wer ein Ventil braucht, um seine Wut verdampfen zu lassen, darf auch die Kommentarfunktion meines Blogs nutzen. Allerdings werden Hasstiraden etwa in ähnlichem Abstand wie der Petitionsordner aussortiert.
Ich glaube, Emotionen sind etwas ganz Wichtiges, Wertvolles, Gottgewolltes. Ein Geschenk, das es wert ist, dass wir es hüten und pflegen. Und dazu zähle ich nicht nur die „positiven“ Emotionen. Auch Zorn ist etwas durch und durch Gottgewolltes – genauso wie die Freude auch. Zorn ist eine ganz wichtige – und nur zu häufig vernachlässigte – Eigenschaft Gottes. Gottes Zorn richtet sich gegen die Sünde. Gott hasst die Sünde und deshalb ist Er zornig auf die Sünde. So zornig, weil uns die Sünde von Ihm trennt. Weil sie uns hässlich macht in Gottes Augen. Weil sie uns zerstört.
Und wegen dieser Sünde, die uns hässlich und kaputt macht, ist Jesus Christus auf die Welt gekommen. Er war ebenso zornig auf die Sünde. So zornig, dass Er eine Peitsche aus Seilen machte und damit die Leute aus dem Tempel verjagte, die mit der Sünde der anderen Menschen ein großes Geschäft machten. Der grausame Tod Jesu am Kreuz von Golgatha hat uns in Gottes Augen wieder sauber und schön gemacht. Wenn wir zu Jesus Christus gehören, dann sieht Gott – wenn Er uns anschaut – nicht uns sündige Menschen, sondern Er sieht Jesus Christus. Weil wir in Jesus Christus verborgen sind.
Und deshalb glaube ich, dass Zorn etwas Heiliges ist. Ich meine damit nicht die Wut im Bauch, wenn man neidisch zusieht, wie der Nachbar schon wieder ein neues Auto in der Garage hat. Heiliger Zorn ist eine Antriebsfeder, die uns dazu bringen soll, gegen die Sünde in der Welt zu kämpfen. Als Christen kämpfen wir vor allem mit dem Evangelium gegen die Sünde. Gottes Reich wird dort gebaut, wo Menschen das Evangelium von Jesus Christus hören und zum Glauben kommen. Dort, wo immer mehr Menschen zum Glauben kommen und sich bewusst unter den Gehorsam unter Gottes Wort stellen, nimmt auch in der ganzen Umgebung die Sünde ab. Zeiten der Erweckung werden zum Beispiel dadurch charakterisiert, dass viel weniger Alkohol getrunken wird und es deshalb weniger Schlägereien und Unfälle gibt. Wo immer mehr Menschen zum Glauben kommen, nimmt die Zahl von Ehescheidungen, von Prostitution und Abtreibung automatisch ab. So breitet sich Gottes Reich durch das treue Verkündigen des Evangeliums aus. Das ist die echte Art der biblischen Gesellschaftstransformation.
Immer mehr Gemeinden kommen jedoch davon ab und versuchen, als Gemeinde Politik zu machen. Das ist nicht biblisch, weil es nicht die primäre Aufgabe der Gemeinde ist, Politik zu treiben. Es ist natürlich die Aufgabe der einzelnen Gemeindeglieder, die in der Politik tätig sind (oder werden möchten), nach biblischen Maßstäben fürs Zusammenleben in der Gesellschaft zu suchen. Das ist die indirekte Art der Gesellschaftstransformation, die aber nicht der Gemeinde als solcher gegeben ist.
Ok, zurück zu Charlie Hebdo und Co. Ich glaube, wie gesagt, dass echter Zorn etwas Heiliges ist, was uns antreiben sollte. Und hier möchte ich meinen Zorn nicht durch ein billiges Substitut ersetzen. Ich meine das so: Ich könnte mein Profilbild wechselb und mich in die riesige Masse der Charlie-Hebdos begeben. Dann habe ich etwas getan. Ich habe einen Einsatz gebracht. Ich habe meine Stimme erhoben. Ich fühle mich wieder gut (oder zumindest besser), weil mein Zorn ein Ventil gefunden hat. Aber mein Zorn gegen die Sünde, die unsere Welt beherrscht, möchte ich nicht für einen Teller des Linsengerichts verscherbeln. Er ist mir heilig. Er soll mich anspornen, soll meine Antriebsfeder sein, um in dieser Welt mehr zu bewegen. Ich hege und pflege ihn. Deshalb bin ich nicht Charlie. Ich bin immer noch ich selbst. Und das ist gut so.
Ich glaube, dass es mit der politischen Einflussnahme mancher Gemeinden ähnlich verhält. Das Evangelium treu zu verkünden bringt keine schnellen Erfolge. Manchmal braucht es Jahre und Jahrzehnte, bis man etwas sehen kann. Aber diese langsamen Erfolge sind erwiesenermaßen größer und wertvoller. Sie bleiben für die Ewigkeit. Das ist es, wofür mein Herz brennt und wofür mein heiliger Zorn gepflegt werden soll.

Die neue Absolutheit

Das Ende der Postmoderne
Obiges Bild habe ich erstellt, um etwas zynisch auf das Ende der Postmoderne hinzuweisen. Seit einigen Jahren beschäftigt mich die Diskussion um die Postmoderne schon, und ich sehe sie in der Gesellschaft immer mehr schwinden. Zunächst ganz kurz: Was ist die Postmoderne? (Man möge mir die fehlende Ausführlichkeit verzeihen, welche es mir unmöglich macht, auf alle Aspekte einzugehen). Die Postmoderne ist eine Bewegung, die aus der Moderne heraus entstanden ist und sich zugleich gegen diese wendet. Hier die wichtigsten Kennzeichen:
Begriff
Moderne
Postmoderne
Vernunft
Letzte Autorität, führt zum Fortschritt
Es gibt keinen Fortschritt. Alles ist gleich gültig und deshalb gleichgültig.
Einheit
Suche nach der Einheit, die alles zusammenhält
Es gibt keine Einheit, nur Vielfalt, wobei alles gleichwertig ist.
Wahrheit
Suche nach der Wahrheit, die mit Hilfe der Vernunft gefunden wird
Es gibt keine Wahrheit, sondern so viele Wahrheiten wie es Kulturen gibt
Sprache
Sprache beinhaltet die Möglichkeit, die Realität adäquat wiederzugeben
Sprache wird dazu missbraucht, um sich die Welt so zu schaffen, wie es einem gefällt und andere damit zu unterdrücken
Die Postmoderne ist aufgekommen, weil die Moderne – der Versuch, die ganze Welt mit Hilfe der Vernunft zu erklären und zu verbessern – gescheitert ist. Zwei Weltkriege mit ihren Abermillionen von Toten haben gezeigt, dass das Projekt Moderne am Ende angelangt ist. Die Moderne war der Versuch, das Übernatürliche aus der Welt auszuschließen und alles im Bereich des Natürlichen zu erklären.
So hat mit der Krise der Weltkriege die Veränderung von der Moderne zur Postmoderne begonnen. Dann kam der Gedanke auf, dass die Welt bestimmt viel friedlicher würde, wenn niemand mehr Wahrheit und Autorität vertreten, sondern man mit Stuhlkreisen und runden Tischen mit viel Toleranz das Gespräch suchen und den Kompromiss finden würde. Doch dieses Denken blieb bei einer Elite von Philosophen und Pädagogen, da sich das Leben nicht im Elfenbeinturm universitärer Arroganz, sondern in der harten Realität abspielt. Spätestens Spätestens wenn jemand nach seinem Einkauf die PIN seiner Karte eingeben muss, wird auch der Postmoderne zwingend zu einem Realisten, sonst müsste er verhungern.
Doch dann kam die nächste Krise, die der Postmoderne schwer zu schaffen machte: Nicht nur hatte sie die Realität gegen sich, sondern eines Tages fielen die Zwillingstürme in New York in sich zusammen. Das war nicht nur ein Angriff auf die USA, sondern ein Angriff auf die westliche Welt, auf die Demokratie, auf die Gesellschaft, welche postmodern geworden war. Auch hier gab es ein Zusammentreffen mit der Realität: Wenn es um viele Menschenleben geht, wenn die eigene Existenz in Frage gestellt wird, dann wird es auch im Elfenbeinturm ungemütlich.
Der Neue Atheismus
Eine Bewegung, die auf diesen Angriff in den USA folgte, war der Neue Atheismus. Er war es, der mich immer mehr zum Nachdenken über die Postmoderne gebracht hat. Der Neue Atheismus ist erfrischend gesprächsfreudig und gibt immerhin eine Basis, auf welcher man sich mit ihm unterhalten kann: Im Normalfall geht er davon aus, dass die Welt um einen herum real ist und nicht nur ein gesellschaftliches Konstrukt. Man kann zwar mit einem Postmodernen wunderbar kontemplativ schweigen (habe ich mir sagen lassen), aber da ist mir das Gespräch mit einem New Atheist deutlich lieber. Leider baut der New Atheism immer mehr auf Aggressivität und Polemik statt auf Argumente, was aber auch damit zusammenhängt, dass häufig Zweiteres mangelhaft ausgebildet ist.
Immer mehr macht sich auch ein neuer Realismus breit. Ron Kubsch hat auf TheoBlog ein paar wichtige Veröffentlichungen dazu besprochen. Vielen Dank für den wichtigen Beitrag, Ron! Der Realismus besagt (wieder sehr stark vereinfacht), dass die Welt um uns herum real ist und wir sie korrekt (nicht vollständig, aber doch adäquat) erfassen und wiedergeben können. Die Frage, ob zuerst die Realität oder zuerst unsere Vorstellung von der Realität da ist, die ist so alt wie die Philosophie selbst und tauchte häufig unter ganz unterschiedlichen Namen und Fragestellungen auf.
Die Gemeinde und der Tod der Postmoderne
Zum Abschluss ein paar Gedanken zur Zukunft der Gemeinde im Zeitalter dieses neuen Realismus. Ich glaube es ist wichtig, dass wir jetzt beginnen, darüber nachzudenken. In vielen postmodernen Gemeinden werden die Glieder mit oberflächlichen, emotionalen Geschichtlein abgespeist. Um geistlich nicht zu verhungern, suchen sie zu tausenden ihre Nahrung im Internet, wo sich nebst einigem Nahrhaftem auch viel Unkraut aufhält. Für den Postmodernen war es weniger wichtig, ob sich eine biblische Geschichte tatsächlich so abgespielt hat. Auf diese Weise hat sich eine ganze Menge an frommer Bibelkritik in ehemals bibeltreue Gemeinden geschlichen. Wenn wir die Herausforderung des Neuen Realismus annehmen, wird eine neue Zuwendung zur absoluten Wahrhaftigkeit und zur Irrtumslosigkeit der Bibel nötig sein. Anderenfalls wird sich die postmoderne Gemeinde in Irrelevanz verflüchtigen.
Weiter wird eine vertiefte Auseinandersetzung mit den tiefgründigen biblischen Lehren nötig sein. Der christliche Realist will die ganze Wahrheit in ihrer Breite und Tiefe kennen. Hier wird ein neuer Schwerpunkt in Systematischer Theologie und Apologetik gebraucht. Das führt aber auch zu neuen Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Denominationen. Deshalb wird hier eine neue konstruktive Streitkultur gebraucht. Was ein Martin Luther in seinen Disputationen gemacht hat, wird es auch heute wieder ganz neu brauchen. Von diesem großen Gottesmann (er war keineswegs perfekt, sondern mit ganz vielen Ecken und Kanten und auch manchen Irrtümern) können wir viel lernen.
Drittens muss der christliche Glaube einen Schwerpunkt auf seine Ganzheitlichkeit legen. Wer sein Leben mit dem Herrn Jesus lebt, dem gehört kein einziger Teil seines Lebens mehr ihm selbst, sondern alles gehört Jesus. Jesus ist der König, der Herrscher, Richter und Erlöser aller Bereiche des Lebens. Das führt auch zu einem neuen Schwerpunkt auf der persönlichen Heiligung. Ein Leben ganz zur Ehre Gottes. Ein Leben, das in aller Gleichgültigkeit einen Unterschied macht. Ein Leben, das die Gesellschaft herausfordert. Ein Leben, dessen Denken, Fühlen, Wollen, Reden, Tun unter Gottes Wort gestellt wird. Tag für Tag neu. Das ist eine Herausforderung, die mich begeistert. Dich auch?