Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit

Berger, Peter L., Luckmann, Thomas, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, S. Fischer Verlag Frankfurt a. M., 20. Aufl. 2004, Amazon-Link
Wie schreibt man über ein Buch, das viele wertvolle und zum Nachdenken anregende Gedanken enthält, während man der gesamten These des Buches diametral gegenüber steht? Kein einfaches Unterfangen, wie ich immer wieder feststellen muss. Vielleicht ist der beste Einstieg ins Thema mit einem Zitat von Neil Postman gefunden. Postman schreibt zu den Sozialwissenschaften: „Ich nenne die Forschungen dieser Leute Geschichtenerzählen, weil das Wort darauf hinweist, dass der Verfasser einer solchen Geschichte einer Reihe von menschlichen Ereignissen eine unverwechselbare Deutung gegeben hat, dass er diese Deutung durch vielfältige Beispiele erhärtet hat und dass seine Deutung nicht bewiesen oder widerlegt werden kann, sondern ihren Reiz aus der Kraft ihrer Sprache schöpft, aus der Tiefendimension ihrer Erklärungen, aus der Triftigkeit ihrer Beispiele und der Glaubwürdigkeit ihres Stoffes. […] Es gibt keine Prüfverfahren, um sie zu bestätigen oder zu falsifizieren. Es gibt keine Postulate oder Voraussetzungen, in denen sie verankert sind. Sie sind an eine Zeit und eine Konstellation gebunden und vor allem an die kulturellen Vorurteile des Forschers.“ (Neil Postman, Die Verweigerung der Hörigkeit, S. 25) Dieses Zitat bringt ziemlich deutlich auf den Punkt, wo das Buch von Berger und Luckmann einen blinden Fleck hat. Die Autoren sehen ihre Arbeit als eine Art von Wissenschaft wie sie die Biologie, Chemie oder Physik auch ist. Und im negativen Sinne gesehen haben sie damit sogar ein Stück weit recht. Auch die „harte“ Wissenschaft verkommt immer mehr zu einer subjektiven Suche nach Erklärungen für die Realität, um bestimmte Thesen zu bestätigen. Doch das weiter auszuführen würde an dieser Stelle zu weit führen.
Zu Beginn grenzen die Autoren ihre Aufgabe ein, und zwar, indem sie sich von der „absoluten“ Bedeutung von Wissen und Wirklichkeit distanzieren und die Bestimmung der Begriffe an die Philosophie abschieben. Sie wollen sich vor allem dem zuwenden, was der „Mann von der Straße“ unter Wissen und Wirklichkeit versteht. Dabei könne es verschiedene Arten von Wirklichkeit und Wissen geben: „Das ‘Wissen’ eines Kriminellen ist anders als das eines Kriminologen.“(S. 3) Daraus wird eine andere Wirklichkeit für die beiden geschlussfolgert. Ein großes Fragezeichen muss man auch hinter diese Aussage setzen: „Theoretische Gedanken, ‘Ideen’, Weltanschauungen, sind so wichtig nicht in der Gesellschaft.“(S. 16) Die gesamte These, die hinter dem Buch steht, lässt sich vielleicht an besten mit folgendem Zitat zusammenfassen: „Die anthropologischen Konstanten machen die sozio-kulturellen Schöpfungen des Menschen möglich und beschränken sie zugleich. Die jeweilige Eingenart, in der Menschenhaftigkeit sich ausprägt, wird umgekehrt aber bestimmt durch eben diese sozio-kulturellen Schöpfungen und gehört zu deren zahlreichen Varianten. So kann man zwar sagen: Der Mensch hat eine Natur. Treffender wäre jedoch: Der Mensch macht seine Natur – oder, noch einfacher: Der Mensch produziert sich selbst.“ (S. 51f)
Schade finde ich, dass sie ihren positivistischen Unterbau nicht begründen, sondern diese Aufgabe der Philosophie überlassen. Halten wir hier kurz inne. Für Berger und Luckmann gibt es außerhalb von uns eine objektive Realität, die jeder Mensch mit seinen Grenzen und Möglichkeiten entdecken, kennenlernen, sich zu eigen machen kann. Zugleich schafft aber jeder Mensch in Zusammenarbeit mit der Gesellschaft auch wiederum Realität. Das Buch zeigt hier ein dialektisches Miteinander, wobei die Gesellschaft, der Einzelne, die Institutionen, und so weiter gemeinsam diese Realität formen und sich gegenseitig auch beeinflussen. Doch die Frage, warum sie von dieser objektiven Realität ausgehen (was ich natürlich begrüße), wird der Philosophie überlassen. Und dann müssen wir natürlich auch sehen, dass Berger und Luckmann die Menschheit auf sich selbst zurückwerfen. Sie gehen davon aus, dass Gott nicht existiert – und versuchen dadurch, eine gottlose Realität zu schaffen. Vielleicht ist das Misslingen dieses Versuchs mit ein Grund, weshalb die Autoren sich um diese grundlegende Arbeit der Fundamentierung drücken. Festzuhalten ist aber, dass die Dialektik von Einzelnem und Gesellschaft zu kurz greift. Vielmehr müsste man von einer Trialektik aus Gott, Einzelnem und Gesellschaft sprechen, welche in einem spannenden und mitunter – ausgelöst durch den Sündenfall – auch spannungsreichen Miteinander resultiert. Gott stellt den Einzelnen in die Gesellschaft, damit dieser in der Gesellschaft Gottes Willen ausführt – und der Einzelne wird durch diese Gesellschaft wieder geprägt und auf Gott zurückgeworfen. Weil Gott uns und unsere Umwelt geschaffen hat, dürfen wir positivistisch von einer objektiven und erfassbaren Realität ausgehen, immer im Wissen darum, dass es auch Versuchung, Verführung und Verirrung gibt. Ich würde dies als einen christlichen kritischen Realismus bezeichnen.
Mit diesen Gedanken im Hinterkopf möchte ich nun auf einige Gedanken des Buches eingehen, die mich positiv herausgefordert haben, und die ich als zumindest teilweise sehr wertvoll empfinde. Nachfolgend ein paar Zitate, wenn nötig mit meinen Anmerkungen dazu.
Wenn das [das Auftauchen eines Problems] eintritt, macht die Alltagswelt zunächst Anstrengungen, den problematischen Teil in das, was unproblematisch ist, hereinzuholen.“ (S. 27) Vermutlich kennen wir das alle. Wenn wir feststellen, dass unser Computer keinen Zugriff aufs Internet hat, dann testen wir zuerst alle möglichen bisher bekannten Quellen eines Fehlers aus, bevor wir beim Service anrufen.
Sprache, ein System aus vokalen Zeichen, ist das wichtigste Zeichensystem der menschlichen Gesellschaft. Ihre Grundlage ist natürlich die dem menschlichen Organismus innewohnende Fähigkeit zu vokalem Ausdruck. Aber Sprache beginnt erst, wo der vokale Ausdruck vom unmittelbaren ‘Hier und Jetzt’ isolierter subjektiver Befindlichkeit ablösbar geworden ist.“ (S. 39)
Weil Sprache die Kraft hat, das ‘Hier und Jetzt’ zu transzendieren, überbrückt sie die verschiedenen Zonen der Alltagswelt und integriert sie zu einem sinnhaften Ganzen. Sie bewegt sich dabei in räumlichen, zeitlichen und gesellschaftlichen Dimensionen. Durch Sprache kann ich die Kluft zwischen der Zone meiner Handhabung und der des Anderen überbrücken. Ich kann die Sequenzen meiner Lebenszeit mit denen der Seinen abstimmen. Ich kann schließlich mit ihm über Individuen und Gruppen reden, mit denen wir keine Vis-à-vis-Interaktion haben. Weil Sprache das ‘Hier und Jetzt’ überspringen kann, ist sie fähig, eine Fülle von Phänomenen zu ‘vergegenwärtigen’, die räumlich, zeitlich und gesellschaftlich vom ‘Hier und Jetzt’ abwesend sind.“ (S. 41)
Sobald der einzelne Mensch über das Nacheinander seiner Erlebnisse nachdenkt, versucht er, ihren Sinn in einen biographischen Zusammenhang einzufügen.“ (S. 68)
Strategische Bedeutung für den Lebenslauf des Einzelnen hat die Legitimationsfunktion symbolischer Sinnwelten durch die ‘Ortsbestimmung’ des Todes. Die Erfahrung des Todes anderer Menschen und die daraus folgende Antizipation des eigenen Todes in der Phantasie ist für den Einzelnen die Grenzsituation par excellence. Dass der Tod auch die ärgste Bedrohung für die Gewissheit der Wirklichkeiten des Alltagslebens darstellt, braucht nicht eigens betont zu werden. Die Integration des Todes in die oberste Wirklichkeit des gesellschaftlichen Daseins ist deshalb für jede institutionale Ordnung von größter Wichtigkeit.“ (S. 108)
Zum Schluss noch interessante Zitate zur christlichen Theologie, die – mit notwendiger Vorsicht genossen – durchaus zum Nachdenken anregen können:
In der Geschichte war eine Irrlehre oft der erste Anstoß zur theoretischen Systematisierung symbolischer Sinnwelten. Die Ausbildung der christlichen Theologie als Folge häretischer Herausforderungen der ‘offiziellen’ Überlieferung ist ein Exempel dafür. Wie bei jeder Theorie erscheinen im Verlauf des Prozesses neue theoretische Möglichkeiten aus der Überlieferung selbst, die damit über ihre ursprüngliche Formulierung hinaus zu neuen Konzeptionen vordringt.“ (S. 115)
Wenn die Autoren in den nächsten zwei Zitaten von „Verwandlung“ sprechen, so ist damit gemeint, dass jemand aus einer „Realität“ in eine andere wechselt, also seinen Horizont erweitert und plötzlich die bisher angenommene Realität in Frage gestellt wird.
Ein ‘Rezept’ für erfolgreiche Verwandlungen muss sowohl gesellschaftliche als auch theoretische Bedingungen erfüllen, wobei die gesellschaftlichen selbstverständlich die Matrix für die theoretischen sind. Die wichtigste gesellschaftliche Bedingung ist das Vorhandensein einer überzeugenden Plausibilitätsstruktur, das heißt also einer gesellschaftlichen Grundlage, die das ‘Laboratorium’ für die Transformation sein kann. Diese Plausibilitätsstruktur muss dem Individuum durch signifikante Andere vermittelt werden, mit denen es zu einer tiefen Identifikation kommen muss. […] Die signifikanten Anderen sind die Führer in die neue Wirklichkeit.“ (S. 168)
Das historische Urbild der Verwandlung ist die religiöse Konversion. Unsere obigen Betrachtungen treffen auf sie zu, wenn es heißt: extra ecclesiam nulla salus [außerhalb der Kirche gibt es kein Heil]. Dabei interpretieren wir ‘Heil’ – mit angemessenen Verbeugungen vor den Theologen, die mit jenem Satz etwas anderes im Sinn hatten – als das erfolgreiche Zustandekommen der Konversion. […] Eine Konversion als Erlebnis bedeutet nicht allzu viel. Entscheidend ist, dass man dabei bleibt, dass man das Erlebnis ernst nimmt und sich den Sinn für seine Plausibilität erhält. Hier nun kommt die Gemeinde ins Spiel. Sie liefert die unerlässliche Plausibilitätsstruktur für die neue Wirklichkeit. Mit anderen Worten: Saulus mag in der Einsamkeit seiner religiösen Ekstase Paulus geworden sein. Paulus bleiben aber konnte er nur im Kreise der christlichen Gemeinde, die ihn als Paulus anerkannte und sein ‘neues Sein’, von dem er nun seine Identität herleitete, bestätigte.“ (S. 169)
Wie gesagt, mit viel Vorsicht zu genießen, aber auch mal darüber nachdenken, inwieweit die Aussagen innerhalb der biblischen Weltanschauung korrekt ist und was man für die Gemeinde davon lernen kann. Ich habe das Buch gerne gelesen und war erstaunt, dass es recht gut lesbar ist. Wer sich noch etwas mehr mit der Soziologie aus bibeltreuer Sicht befassen möchte, findet das Buch „Redeeming Sociology“ von Vern Sheridan Poythress hier als PDF kostenlos zum Download. Leider nur auf Englisch erhältlich.

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