Der kanonische Ansatz einer Biblischen Theologie

In der Mitte des 20. Jahrhunderts wurde immer mehr die Frage nach einem Ansatz der Biblischen Theologie, welche für möglichst viele Theologen annehmbar sein sollte, laut. Auf der einen Seite gab es da eine Reihe von historisch-kritisch arbeitenden Theologen, welche eine Vielzahl an neuen Ansätzen der Interpretation hervorbrachten. Manche stellten die Überlieferungsgeschichte eines Textes in den Mittelpunkt und fragten danach, wie der Text zu seinem jetzigen Inhalt gekommen ist. Sie gingen davon aus, dass jeder Text zuerst nur mündlich überliefert worden sei und bei jeder Weitererzählung noch Neues hinzugedichtet worden sei. Davon versuchten sie, die ursprüngliche Version zu rekonstruieren. Andere dachten sich, dass die Texte nach ihrer Niederschrift noch mehrmals überarbeitet sein müssten, und versuchten auch hier, durch die Zerlegung der Texte in eine Vielzahl von einzelnen „Theologien“ (also dem, was der jeweilige Autor und die den Text überarbeitenden Redaktoren von Gott dachten), das zu rekonstruieren, was ursprünglich sei. Wieder andere hielten die Texte für wilde Durchmischungen von mehreren früheren Texten, wo die Redaktoren mal einen Vers vom einen und dann wieder vom anderen Text genommen haben sollten. Zahlreiche Theologen mischten diese Vorgehensweisen auch nach Belieben durcheinander, und so kann es nicht verwundern, dass eine nicht enden wollende Zahl an Ansätzen und Resultaten den Büchermarkt überflutete. Auf der anderen Seite hielten einige der evangelikalen Theologen an der Irrtumslosigkeit der Bibel fest und lehnten jede Suche nach dem „Text hinter dem Text“ ab. In dieser Zeit hielt Henning Graf Reventlow fest:

Eine „Biblische Theologie“ ist noch nicht geschrieben. Der Weg zu diesem Ziel ist nicht nur von Hoffnung, sondern auch von vielerlei Skepsis begleitet. Sie zu überwinden wird nur möglich sein, wenn auf vorschnelle Lösungen verzichtet wird und alle Perspektiven umfassend und mit der nötigen Sorgfalt ins Auge gefasst werden. „Biblische Theologie“ ist ein in weitestem Sinne exegetisches und systematisches Arbeitsgebiet.“1

Seit dem Erscheinen der Biblical Theology von Brevard S. Childs 1992 hat sich das – zumindest aus Sicht vieler liberaler Bibelwissenschaftler – geändert.

Die Bibel als Kanon verstehen

Der sogenannte „Canonical Approach“ von B. S. Childs macht einen neuen Versuch, die Ergebnisse der historisch-kritischen Erforschung der Bibel in Einklang zu bringen mit einer Annahme der biblischen Texte in ihrer kanonischen Form. Damit wird der Versuch gestartet, eine Lücke zu schließen zwischen der bibelkritischen und der evangelikalen Forschung, die insbesondere in den Vereinigten Staaten seit langer Zeit in der Luft liegt. Childs geht nun davon aus, dass „das Material weitergegeben wurde durch seine verschiedenen mündlichen, literarischen und redaktionellen Stufen von vielen verschiedenen Gruppen bis zu einem theologischen Ziel. Weil die Traditionen als glaubensmäßig autoritativ empfangen wurden, wurden sie so weitergegeben, dass sie eine normative Funktion für nachfolgende Generationen von Gläubigen innerhalb einer Glaubensgemeinschaft erhalten konnten. Dieser Prozess, das Material theologisch wiederzugeben, beinhaltete unzählige verschiedene Techniken des Zusammenstellens, durch welche die Tradition realisiert wurde.“2

So wird nun endgültig klar, dass Childs keinesfalls die historisch-kritische Arbeitsweise aufgegeben hat. Sie ist ihm wichtig, mehr noch, er meint, dass man ohne sie die Bibel gar nicht erst verstehen könne. Was bei Childs neu ins Zentrum rückt, ist das Element der gläubigen Versammlung, welche dem Kanon seine Autorität verleiht. Er kennt keine dem Kanon innewohnende Autorisierung, sondern einzig die Tatsache, dass der Kanon von der glaubenden Gemeinde – wie auch immer – zusammengestellt, redigiert, verändert und neu zusammengestellt wurde, kann dem Kanon als solchem eine externe Autorität geben. Es muss also gefragt werden, wie ein Text in der Bibel entstanden ist, warum er wie redigiert und wie er rezipiert (in anderen Stellen wiedergegeben, gedeutet oder ausgeführt) wird. Die Frage, was ein Text bedeutet, tritt in den Hintergrund, während man viel Wert auf den Vorgang der Entstehung eines Textes bis zu seiner Form im heutigen Kanon gelegt wird.

Wichtige Vertreter des Konzepts

An erster Stelle muss hier natürlich B. S. Childs genannt werden. Er hat dieses Konzept entwickelt und bekannt gemacht. Nach ihm haben es zahlreiche andere Theologen aufgenommen und auf je ihre Art und Weise weiter entwickelt. Im deutschsprachigen Raum ist vor allem Rolf Rendtorff bekannt geworden. Er nennt seine Theologie des Alten Testaments im Untertitel „Ein kanonischer Entwurf“. In der Tat hat er einen Entwurf einer Theologie des Alten Testaments hinterlassen, den man als solchen so bezeichnen kann. Zu seiner Methodologie beschreibt Rendtorff sein Anliegen wie folgt:

Die erste und primäre Aufgabe einer theologisch motivierten Exegese ist die Auslegung des vorliegenden Textes. Diese Veränderung der Fragestellung impliziert eine grundlegende Veränderung des Auslegungsinteresses. Die vorherrschende literarkritische Betrachtungsweise ist per definitionem an den Vorstadien des jetzigen Textes und damit zugleich an seiner Entstehungsgeschichte interessiert. Sie ist darin „historisch-kritisch“, dass sie nach der Geschichte fragt, die zur Entstehung des jetzigen Textes geführt hat und sich in den verschiedenen Stadien der Textentstehung widerspiegelt. […] Die Umkehrung der Fragestellung, die mir notwendig erscheint, geht davon aus, dass jeder biblische Text in der Gestalt, in der er uns vorliegt, seine eigene Aussage zu machen hat. […] Das bedeutet nicht, wie gesagt, die Ergebnisse der historisch-kritischen Exegese zu verwerfen. Es geht vielmehr um ihre Zuordnung und ihren Stellen-wert im Rahmen einer Theologie des Alten Testaments. Hierbei spielt u.a. die Frage der Datierung der Texte und der daraus gezogenen Folgerungen eine wichtige Rolle. Deshalb ist es in diesem Zusam-menhang nicht unwichtig, den hypothetischen Charakter und die damit verbundene Unsicherheit und Wandelbarkeit vieler Ergebnisse der historisch-kritischen Exegese zu bedenken.“3

Vorteile des Konzepts

Hans Hübner zeigt in den Prolegomena zu seiner Biblischen Theologie des Neuen Testaments auf, dass Childs – obgleich er hierin nicht mit Childs mitgehen kann – mit diesem Ansatz die Möglichkeit hat, „ein Maximum an Kontinuität vom Alten Testament zu Neuen hin herauszustellen.“4 Er fährt fort:

Entscheidend ist die ekklesiologische Dimension: Gottes Bundesbeziehung zu Israel ist im Neuen Testament bestätigt („confirmed“). […] Vielleicht ist dies die wichtigste Antwort Child’s [sic!] auf die von ihm selbst gestellte Frage, wie das Neue Testament im Lichte des Alten zu interpretieren sei. Auf die in die entgegengesetzte Richtung zielende Frage, wie das Alte Testament im Lichte des Neuen zu interpretieren sei, gibt er vor allem die Antwort: ‘There is no body of Old Testament teaching that stands by itself and is untouched by the revelation of the Son.’“5

So lässt sich durchaus eine Biblische Theologie aufbauen, die versucht, die Kontinuität der Testamente zu betonen. Inwieweit dies aber erstens tatsächlich gelingt und zweitens ob diese Vorgehensweise dem Inhalt der Bibel gerecht wird, soll an dieser Stelle bezweifelt werden.

Nachteile des Konzepts

Auf der einen Seite ist zunächst einmal zu bezweifeln, ob die hier übliche historisch-kritische Vorgehensweise in der Exegese dem entspricht, was die Heilige Schrift sein möchte. Nämlich genau das: Heilige Schrift. Auch ist der Versuch, historisch-kritische Bibelwissenschaft mit dem Selbstverständnis der Bibel zu versöhnen, von vornherein zum Scheitern verurteilt. Ebenso stellt sich die Frage, inwieweit das Ausblenden der geschichtlichen Dimension zu einer objektiven Findung von Antworten der Biblischen Theologie zu führen vermag.

Fazit

Das kanonische Konzept war ein Versuch der Biblischen Theologie, über die Gegensätze der bibeltreuen und der historisch-kritischen Exegese hinauszukommen. Letztlich muss dieser Versuch als gescheitert betrachtet werden, da sich die Vertreter zu Verfechtern der historisch-kritischen Methoden machen. Er wird zu einem trojanischen Pferd, das unter dem Deckmantel des gesamten biblischen Kanons versucht, Bibelkritik in die evangelikale Bewegung einzuführen. Deshalb ist dieses Konzept nicht weiter zu empfehlen – so interessant es auch auf den ersten Blick aussieht. Es gibt – gerade im englischsprachigen Raum – eine Reihe deutlich besserer Ansätze, die heilsgeschichtlich, thematisch, systematisch und literarisch arbeiten.

Fußnoten:

1Reventlow, Henning Graf, Hauptprobleme der Biblischen Theologie im 20. Jahrhundert, Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt, 1. Aufl. 1983, S. VII

2Childs, Brevard S., Biblical Theology of the Old and New Testament, Fortress Publication Augsburg, 1993, S. 70, Übersetzung: JE

3Rendtorff, Rolf, Theologie des Alten Testaments – ein kanonischer Entwurf, 2 Bde., Neukirchener Verlag Neukirchen-Vluyn, 1999, Bd. 2, S. 283f

4Hübner, Hans, Biblische Theologie des Neuen Testaments, Bd. 1: Prolegomena, Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen, 1. Aufl. 1990, S. 72

5Ebd.

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