Buchtipp: Range von David Epstein

Epstein, David, Range – How Generalists Triumph in a Specialized World, Macmillan Verlag, 2019, Amazon-Link

In einer kürzlichen Coaching-Session wurde ich auf das Buch des amerikanischen Journalisten David Epstein aufmerksam gemacht. Es ist gerade für Menschen wie mich, die von sehr vielen Interessen, Ideen und Projekten angezogen sind, sehr interessant und aufschlussreich.

Zu Beginn vergleicht Epstein zwei verschiedene Arten, wie Menschen aufwachsen und lernen können. Er zieht dafür die Biographien zweier Sportler heran, die unterschiedlicher nicht hätten sein können: Tiger Woods und Roger Federer. Während der Golfer Woods von jüngsten Jahren an von seinen Eltern zum Golfen gedrängt wurde, war Roger Federer als Kind nebst Tennis auch beim Fußball aktiv und erfolgreich. Erst als Teenager entschied er sich ganz für den einen Sport, in welchem er es bis an die Weltspitze brachte.

Das ganze Buch hindurch ziehen sich Geschichten, Biographien, Studien. Und da muss ich sagen: Es ist mir etwas zu amerikanisch. Der Versuch, durch eine Vielzahl von Stories eine breitere Leserschaft zu finden, ist typisch für viele amerikanische Autoren. Ich denke da immer: „weniger ist mehr“, denn der rote Faden geht in all den Geschichten immer wieder verloren.

Sehr spannend fand ich, dass die Arbeit von Daniel Kahneman, mit welcher ich mich vor ein paar Jahren bereits beschäftigte, mehrfach aufgegriffen wurde. Kahneman befasst sich viel mit den Ungewissheiten, die eine Entscheidungsfindung in offenen Systemen erschweren. Spezialisten sind gut bei Aufgaben, die ein relativ geschlossenes System voraussetzen. Etwa Schach hat ein geschlossenes System von Regeln, die immer gleich sind. Ein Schachcomputer kann Millionen von Schritten berechnen und aufgrund von bisherigen Schachspielen mit einigermaßen großem Erfolg vorausberechnen, was ein menschlicher Gegner wahrscheinlich als Nächstes tun wird. Schachspezialisten können das auf eine ähnliche Weise, doch nicht indem sie vorausberechnen, sondern indem sie das Schachbrett im Kopf in eine Reihe von kleineren Einheiten unterteilen und durch ihre Erfahrung intuitiv ähnlich genau vorhersagen, wohin das Spiel in den nächsten Zügen führt.

Die meisten Aufgaben in unserer Realität sind jedoch offene Systeme, sie haben keine geschlossene Anzahl von Regeln, sondern sind komplexer. Und hier brilliert Epstein in seinem Buch. Er zeigt, dass es gerade für diese Aufgaben immer mehr Generalisten braucht, die sich in ihrem Leben nicht nur auf eine Sache spezialisiert haben, sondern immer wieder Umwege gegangen sind, manchmal auch gehen mussten. Alle neu erlernten Fähigkeiten machen sie besser vorbereitet auf Aufgaben, die komplexer sind.

Spezialisten werden immer wichtig bleiben. Sie sind es, welche Lösungen umsetzen. Sie sind es, welche Geräte herstellen und optimieren. Aber in einer Zeit, in welcher man sich immer mehr mit Problemen in der Realität offener Systeme befassen muss, werden Spezialisten weniger häufig gebraucht. Ich möchte an der Stelle noch etwas zum Buch hinzufügen. Die letzten Jahre haben mir zwei Dinge gezeigt, die sich gerade verändern, die uns noch schneller von der großen Menge an Spezialisten wegführen. Epstein schrieb das Buch 2019, also vor etwa vier bis fünf Jahren. In den vergangenen zwei Jahren hat sich gezeigt, dass Maschinen inzwischen viel Arbeit von Spezialisten übernehmen können. Die weitere Entwicklung von GPT und ähnlichen Programmen sowie in der Welt der Robotik wird sich noch sehr viel tun, was unsere Welt, Berufe, unser Selbstverständnis als Menschen verändern wird. Viele Arbeiten von Spezialisten können nach und nach automatisiert werden und bedürfen lediglich noch menschlicher Begleitung und Überwachung.

Das Zweite, was sich gezeigt hat, ist aber auch, dass wir in einer Welt der Small Data leben. Künstliche Intelligenz, aber auch die Spezialisierung von Spezialisten ist jedoch stark auf Big Data angelegt. Big Data heißt, es gibt sehr viele ähnliche Fälle, die man vergleichen, zusammenrechnen und immer wieder den Durchschnitt findet, während jeder neue Durchschnitt näher an die Wirklichkeit führt. Wir haben uns allzu lange in einem Big-Data-Universum gefühlt.

Doch sei es in der Medizin, bei der Anamnese von Krankheiten oder auf der Straße, wo der Traum vom autonomen Fahren immer weiter davonfliegt: Die Realität ist Small Data, jeder Fall muss einzeln geprüft, abgewägt, reagiert werden. Der Mensch – und speziell noch der Generalist im Besonderen – ist ein Small-Data-Wesen, das für eine Small-Data-Wirklichkeit geschaffen wurde.

Noch einmal zurück zum Buch. Ich möchte mit einem von vielen Beispielen, die man im Buch nachlesen kann, schließen. Der Autor beschreibt eine Studie, die gemacht wurde, in welcher Comic-Autoren verglichen wurden. Interessant dabei ist, dass Autoren umso erfolgreicher darin sind, Comic-Charaktere zu entwerfen, in je mehr verschiedenen Genres sie sich schon probiert haben. Spezialisten für eine ganz bestimmte Art von Comics sind am wenigsten wahrscheinlich erfolgreich.

Ich kann das Buch sehr empfehlen und gebe ihm 4,5 von 5 Sternen.

Buchtipp: Zukuft? China!

Sieren, Frank, Zukunft? China! Wie die neue Supermacht unser Leben, unsere Politik, unsere Wirtschaft verändert, Penguin Verlag München, 2018, 386S., Verlagslink, Amazon-Link

Frank Sieren ist Journalist und lebt seit 1994 in Peking. Kaum ein anderer Deutscher hat so viel Einblick in die Veränderungen in China wie er. Und das versteht er meisterhaft auf den Punkt zu bringen. Da ich sehr an dieser neuen Supermacht interessiert bin, war mir einiges schon bekannt, aber es war wertvoll, diese neueste Geschichte Chinas noch mal in komprimierter Form geboten zu bekommen. Was ich nicht auf dem Schirm hatte, war der Ausbau der „neuen Seidenstraße“, wie schnell dieser voranschreitet.

Spannende Einblicke in ein fremdes Land

Bei alledem, was mir schon bekannt war, ist mir China doch immer ein fremdes Land geblieben. Das chinesische Denken mit all seinen inneren Widersprüchen und seiner großen Bandbreite an Sichtweisen ist mir durch dieses Buch ein klein wenig näher gekommen, hat aber auch Interesse geweckt, noch mehr darüber zu erfahren. Schließlich wird dieses Land – wie der Autor sehr richtig bemerkt – in näherer Zukunft noch viel stärker unser Leben beeinflussen.

Insgesamt hätte ich mir noch mehr Klarheit gewünscht in der Beurteilung des Landes. Man muss sich bewusst sein, dass China nicht nur einfach ein „autoritär regiertes“ Land ist, es ist vielmehr eine kommunistische Diktatur, eine klassische Tyrannis wie sie im Buche steht, die durch den Ausbau der Technologie, allgegenwärtige Überwachung und der Künstlichen Intelligenz noch viel effektiver wird als das Stasi-Archiv mit all seinen Mitarbeitern. Die Christenverfolgung ist in China schon weit fortgeschritten, immer wieder werden Christen gefangen genommen, und erst kürzlich machte wieder eine Nachricht die Runde, dass nämlich in der Bibelausstellung einer Kirche in allen Bibeln das erste von den Zehn Geboten entfernt worden sei.

Wie gehen wir damit um?

Ein weiteres Thema, in dem ich dem Autor widersprechen möchte, betrifft die Lösung des Problems. Er geht davon aus, dass wir starke Staaten mit autoritären Regierungen brauchen, um China das Wasser reichen zu können. Was wir statt zentralen Ordern nötig haben, ist eine starke Wirtschaft, damit die europäischen Betriebe in Technologien investieren können, die China noch benötigt. Sieren sagt zu Recht, dass sich China nur dann um westliche Regeln scheren wird, wenn der wirtschaftliche und technologische Druck vorhanden ist. Dieser kann jedoch nicht voranschreiten, wenn Betriebe weiterhin so arg vom Staat gemolken werden, sondern nur, wenn die Wirtschaft deutlich freiere Hand erhält.

Sehr gut gefallen hat mir jedoch der Abschnitt über Afrika, und wie China dabei ist, dort für mehr Wohlstand zu sorgen. Nicht durch humanitäre Hilfe, sondern durch wirtschaftliche Investition, die man hierzulande wohl zunächst als „Ausbeutung“ bezeichnen würde, die in Wahrheit jedoch vielen Menschen eine neue Perspektive gibt und dort neuen Wohlstand schafft.

Fazit:

Ein spannendes Buch zur Zukunft mit China als neuer Supermacht. Viel davon ist sehr lesenswert. Einzelne Aussagen und Tipps führen dabei jedoch eher zu Eigentoren. Ich gebe dem Buch vier von fünf Sterne.

Gebet für die postevangelikale Bewegung

Inspiriert hat mich zu diesem Artikel ein sehr starker Text, den der Postevangelikale Christoph Schmieding im Eule-Magazin gepostet hatte. Dieser Text hat mich bewegt, und es ist nicht der erste von diesem Autor, der mich umtreibt. Schmieding schreibt sehr ehrlich, wohl durchdacht und auch ästhetisch schön zu lesen. Was mich dieses Mal besonders berührt hat, ist seine Fähigkeit zum selbstkritischen Nachdenken. Er kann zu den Grenzen seiner selbst und seiner Bewegung stehen. Wenn ich unsere bibeltreue Szene betrachte, fehlt mir diese Reflexion. Selbstkritik, die weder beschwichtigend wird, noch in eine Art Weltuntergangsstimmung verfällt, gibt es viel zu selten. Ich merke auch an mir selbst, dass ich noch einiges mehr zu lernen habe, um diesen task zu managen. Deshalb versuche ich es gar (noch) nicht erst, sondern bete. Für die postevangelikale Bewegung und indirekt auch für uns Bibeltreue.

Die postevangelikale Bewegung besteht zu einem großen Teil aus Menschen, die früher einmal zur evangelikalen Bewegung gehörten und diese dann verlassen haben – um Gott auf eine andere Art zu finden. Viele sind desillusioniert, verletzt, enttäuscht. Und das zu recht. Viel zu oft wurden sie nicht ernst genommen, ihre Zweifel und Fragen viel zu billig abgetan und manchmal auch dämonisiert („Zweifel sind vom Teufel“). Viel zu oft haben sie Gemeinde als theologische und politische Machtkämpfe erlebt. Viel zu oft haben sie den Hang zur ästhetischen Mittelmäßigkeit gesehen, der in evangelikalen Kreisen unbewusst propagiert wird. Viel zu oft war (und ist) Gemeinde mehr Hierarchie als Familie. Viel zu oft wurden sie von der Gleichgültigkeit gegenüber bestimmten Gruppen von Menschen (im Falle von Schmieding etwa der Künstler, die einen ganz eigenen Lebensstil haben) sensibilisiert. Viel zu oft sind sie mit ihren Ideen, Vorschlägen, Träumen und ihrer Leidenschaft in ihrem Umfeld angeeckt und auf taube Ohren gestoßen. So sind sie ausgezogen aus Evangelikalien und suchen etwas Neues, etwas Besseres. Manche von ihnen ganz ohne Gemeinschaft, andere gründen „Communities“, wieder andere wollen gar nichts mehr mit dem christlichen Glauben zu tun haben. Ich möchte das kommende neue Jahr dazu nutzen, um noch viel mehr für diese Menschen zu beten.

Ich bete darum, dass Gott ihnen ganz neu begegnet. Ich bete nicht, dass sie sich wieder „zu uns zurück“ bekehren. Manche werden das zweifellos tun, aber bis dahin muss sich in evangelikalen Gemeinden noch sehr viel ändern. Ich bete, dass sie Gott auf eine ganz neue Art und Weise sehen und erleben mögen. Ich bete, dass sie die Liebe Gottes neu erkennen mögen, und sehen, dass diese ihr Verständnis von Gott noch viel mehr erweitert und prägt. Ich bete, dass sie gesegnet werden und ihre Gemeinschaften wachsen mögen, gerade auch indem sie neue Menschen erreichen, die in unseren Gemeinden links liegen gelassen werden.

Ich bete darum, dass sie lernen können, ihre Verletzungen, die sie sich in evangelikalen Kreisen zugezogen haben, hinter sich zu lassen und – wichtiger noch – uns zu vergeben. Ich bete damit auch darum, dass wir Bibeltreuen offene Augen bekommen für das, was an ihnen geschehen ist und dass wir anfangen, auf sie zuzugehen und um Vergebung zu bitten. Ich spreche auch mir selbst das zu, denn ich sehe auch immer wieder, wie leicht etwas ausgesprochen oder geschrieben ist, was andere verletzen und kränken kann. Ich bete, dass hier eine größere Sensibilität entsteht, was unsere Worte in anderen Menschen bewirken können.

Ich bete darum, dass die Gesprächsbereitschaft zwischen den verschiedenen Gruppen von Menschen wächst und auch jeder bereit wird, von anderen zu lernen. Aufeinander zu hören ist eine der wichtigsten Disziplinen unserer Zeit, aber ebenso auch, die eigene Sichtweise gründlich durchdenken und kommunizieren zu können. Ich bete, dass die Diskussionen noch weiter zunehmen, diese aber von einem Geist der gegenseitigen Liebe und Gnade durchdrungen wird, sodass die Wahrheit nicht einfach nur als Wahrheit gesagt wird, sondern auch als etwas, was für das Gegenüber annehmbar ist. Ich bete, dass wir alle lernen, noch besser zu kommunizieren und von niemandem mehr verlangen, den Verstand an der Garderobe abzugeben oder Fragen und Zweifel zu unterdrücken und zu verteufeln.

Ich bete darum, dass dieser Austausch für alle Beteiligten noch viel fruchtbarer wird. Ich bete, dass der postevangelikale Sinn für Ästhetik uns Evangelikale aufrüttelt, dass wir uns ganz offen mit unserem Hang für Mittelmäßigkeit beschäftigen. Wir leben allzu oft noch in der Vergangenheit. Viele Jahrhundserte lang wurde die Kunst und Kultur von christlichen Künstlern dominiert. Inzwischen hat sich das um 180° gedreht, und sehr viel der besseren Kunst stammt von säkularen Künstlern. Wer sich jetzt darauf beruft, dass das alles vom Teufel sei (von Metallica über Hollywood bis zu Stephen King), muss sich damit abfinden, dass die „noch erlaubte“ Kultur so sehr geschrumpft ist, dass sie kaum mehr als mittelmäßige Abklatsche säkularer Kultur hervorbringen kann. (Wenn ich dazu komme, möchte ich nächstes Jahr noch eine etwas längere Kulturkritik schreiben, wo ich auf diese Punkte im Detail eingehen kann)

Ich bete darum, dass die ehrliche Selbstkritik in allen Lagern weiterhin zunimmt. Hierin bin ich richtig dankbar für die postevangelikale Bewegung: Sie hilft uns, dass wir unsere blinden Flecke erkennen können und uns noch besser in das verändern lassen können, was Gott mit uns vorhat. Ich bete auch, dass wir Evangelikalen im selben Sinne den Postevangelikalen einen Spiegel vorhalten können. Es gibt einiges, was wir richtig gut können, und das dürfen wir auch weiterhin betonen. Wir haben relativ stabile Verbände von Gemeinden, die zusammen etwas bewegen können. Damit meine ich zum Beispiel die weltweite evangelische Allianz, aber auch die Gemeindebünde, die mehr erreichen können als einzelne Communities allein. Wir haben ein gemeinsames Fundament, nämlich die Bibel, die in ihrer Gesamtheit Gottes Wort ist, wir haben gemeinsame Bekenntnisse, die wir nicht erst diskutieren müssen, bevor wir uns einig werden können. Wir haben eine gemeinsame Geschichte, die in der Zeit der Apostel beginnt und bis in alle Ewigkeit weiter andauert. Wir haben eine riesige Auswahl an guter Literatur (mehr als je zuvor), und vieles davon ist online frei erhältlich. Wir haben Buchverlage und Ausbildungsstätten für theologisch Interessierte. Wir haben unzählige Gründe für Dankbarkeit! Lasst uns Frieden suchen und ihm hinterher jagen!

Jordan B. Peterson und die kulturelle Evolution

Hier (Link) geht es zu meiner Einführung zu dieser kurzen Serie zu Jordan B. Peterson und der evangelikalen Bewegung.

Es gibt zwei grundlegende Ideen oder Ideologien, welche die Weltanschauung von Jordan B. Peterson ausmachen. Eine Weltanschauung ist die Brille, durch welche ein Mensch oder eine Gruppe von Menschen die Welt anschauen und alles, was sie erkennen, lernen, erfahren, wird durch diese Weltanschauung interpretiert. Die zwei Konstanten, welche die Weltanschauung von Peterson ausmachen, sind der Darwinismus und die Archetypen-Lehre von Carl Gustav Jung. Peterson ist ja selbst ein klinischer Psychologe und lehrt nebenher inzwischen an verschiedenen Universitäten, und viele hunderte von Stunden seiner Vorlesungen und Diskussionen finden sich auf YouTube. Das große Problem von Peterson und uns Evangelikalen ist, dass er und viele von uns trotz so unterschiedlicher Weltanschauung zu ähnlichen Meinungen kommt. Das ist gut und schlecht zugleich. Es ist gut, weil es zeigt, dass man auf unterschiedliche Wege zum selben Resultat kommen kann, aber es ist schlecht, wenn wir seine Argumente ungeprüft übernehmen, die auf einer Weltanschauung aufgebaut sind, die unserer Weltanschauung total konträr entgegen steht. Im heutigen Blogpost möchte ich die erste Prämisse der Weltanschauung von Jordan B. Peterson auseinandernehmen, die biologische und kulturelle Evolution, und im nächsten Beitrag wird es um die Archetypen-Lehre und sein Verhältnis zur Religion und besonders zum Christentum gehen.

Peterson baut sein ganzes Weltbild auf dem Darwinismus auf. Es ist für ihn natürlich total legitim, dies zu tun. Da er allerdings öffentlich lehrt, müssen seine Vorträge natürlich auch öffentlich geprüft und besprochen werden. Was der Umfang des Darwinismus ist, darüber gibt es ein ganz breites Spektrum von Meinungen. Grundsätzlich lehnen die meisten Spielarten des Darwinismus ein übernatürliches Eingreifen in die Entwicklung ab. Man kann die zwei Dogmen des Darwinismus mit den Begriffen Mutation und Selektion stark vereinfacht zusammenfassen. Da ich an dieser Stelle nicht vorhabe, ein Buch zu schreiben, möge mir der Leser die Vereinfachung verzeihen. Ich bin mir bewusst, dass man dazu noch viel mehr schreiben könnte oder gar sollte. Mutation und Selektion bedeutet: Das Leben möchte möglichst stabil sein. Es haben sich Mechanismen entwickelt, die einer möglichst langen Reihenfolge von Ahnen ein unverändert bestmögliches (Über-)Leben ermöglichen wollen. Ressourcenknappheit führt zur Auslöschung der schwächeren Arten, während die besser an die Umwelt und deren Veränderungen angepassten Arten überleben.

Und hier stellt sich eine grundlegende Frage: Wie sieht es beim Menschen aus? Ist seine Kultur, seine Vernunft, sein Bewusstsein, seine Fähigkeit zum Planen und Vorbereiten, Prüfen und intellektuellen Lernen ein Teil der Evolution im positiven oder im negativen Sinne? Anders gefragt: Sind diese Fähigkeiten etwas, womit der Mensch seine biologische Herkunft (wenn man davon ausgehen will) fortsetzt oder überwindet? Der britische Biologe Richard Dawkins vertrat in seinem ersten Buch „Das egoistische Gen“ zum Beispiel die Meinung, dass der Mensch durch die kulturelle Evolution der „Meme“ (er erfand den Begriff des Mems analog zum Gen als Informationseinheit, die durch Lernen von Generation zu Generation weitergegeben wird) seine biologisch vererbten Instinkte hinterfragen und überwinden kann. Er meinte, dass es an der Zeit sei, die veralteten Ideen der Religionen hinter sich zu lassen und die Welt zu erlösen, indem alle aufeinander Rücksicht nehmen. Peterson hingegen – obwohl er eigentlich von einem sehr ähnlichen Modell der Welterklärung ausgeht – begründet gerade die Hierarchien und patriarchale Strukturen mit der kulturellen Evolution oder anders gesagt mit seinem Sozialdarwinismus.

Peterson argumentiert, dass die Strukturen der menschlichen Gesellschaft nach all den vielen Millionen Jahren der Entwicklung so verdrahtet seien, dass der Mensch nur in den alten Hierarchien denken, leben und Ordnung schaffen kann. Wenn man diese Ordnung auflöse, so entstehe dadurch Chaos. Dawkins und Peterson – zwei Vertreter eines kulturellen Darwinismus – kommen zu so gegensätzlichen Schlüssen. Wie kann das sein und wie gehen wir damit um?

Ich bin überzeugt, dass beide Menschen, Dawkins und Peterson, mit bestem Wissen und Gewissen gelernt, geforscht, nachgedacht und geschrieben haben. Beide gehen von den selben Quellen und Ideen aus. Doch beide haben unterschiedliche Biographien und ganz verschiedene Erfahrungen in ihrem Leben. Dawkins hat viele Probleme mit Vertretern von Kirchen und Gemeinden (und ja, ich kann ihm das nachfühlen und verstehe seine Verbitterung ein Stück weit), er macht mit friedfertigen Agnostikern und Atheisten bessere Erfahrungen (das ist ebenfalls ein Stück weit nachvollziehbar), deshalb glaubt er an eine Erlösung dieser Welt durch den Fortschritt und die Abschaffung der alten Religionen. Peterson hingegen bekommt auf seine Couch vor allem die Menschen, welche ein Leben voll Chaos haben und hilft ihnen, Struktur in ihr Leben zu bringen, indem er ihnen die Welt vereinfacht und sie lehrt, ihren Platz in einem einfachen Leben von klaren Gegensätzen und einer klaren Ordnung zu finden. Dawkins ist somit eher progressiv, Peterson eher konservativ.

Dieser letzte Gedankengang führt uns zur nächsten Frage: Was will Peterson erhalten oder konservieren? Das sagt er so nicht wirklich. Ich bezweifle überdies, dass er sich tatsächlich bewusst ist, was er konservieren will. Man kann es nur aus dem gesamten Buch heraus zu destillieren versuchen, und ich bin nach einigem Nachdenken und dem mehrfachen Lesen einiger Absätze zum Schluss gekommen, dass Peterson versucht, das Ideal der oberen bürgerlichen Mittelschicht von Amerika in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wiederherzustellen. Er möchte einen liberalen (freiheitlichen), aufgeklärten und autonomen Menschen, der an klare Unterscheidung von Gut und Böse glaubt und der bereit ist, für diese Freiheit zu kämpfen. Für ihn ist das 20. und 21. Jahrhundert ein einziges Trauerspiel, das es zu überwinden gilt, indem man auf die Ideale, Werte und Tugenden der Zeit davor zurückgreift. Man sollte dabei nicht vergessen, dass dieses Ideal genauso widersprüchlich ist wie der nietzscheanische Übermensch oder der freie Bürger des kommunistischen Weltstaats. Entweder der Mensch ist frei und autonom, das heißt, er ist sich selbst Gesetz, und damit sind Gut und Böse, Richtig und Falsch, Tugend und Untugend aufgelöst, oder er ist dem Urteil eines Höheren unterworfen, der ihm die Werte und Tugenden vorschreibt. In diesem Spannungsfeld von Autonomie und universellen Werten lebt der Mensch schon seit Jahrtausenden. Das Buch der Richter in der Bibel lässt grüßen.

An dieser Stelle müssen wir evangelikalen Christen uns die Frage gefallen lassen: Was ist unser Ideal? Leider haben sich viele von uns auch auf die „guten alten Zeiten“ des bürgerlichen Lebens im 19. Jahrhundert eingeschossen. Viele von uns versuchen, so gut wie möglich nach der Bibel zu leben, aber unsere heutige Vorstellung davon, wie das im täglichen Leben aussehen soll, wurde erst vor etwa 150 Jahren geprägt. Es war die Zeit, in welcher der Wohlstand zunahm, die negativen Folgen der Industrialisierung durch die positiven Folgen wieder wett gemacht wurden, und die Übergänge zwischen den Gesellschaftsschichten immer durchlässiger wurden. Das Ziel der Familien war, mal in der oberen Mittelschicht anzukommen, dort, wo ein Einkommen für die ganze Kleinfamilie ausgereicht hat. Die Hausfrau und Mutter, die sich um die drei „K“ (Kinder, Küche, Kirche) kümmerte, war das Ideal. Wer als Familie dort ankam, hatte es geschafft, in der oberen Mittelschicht anzukommen, und dieses Ideal treibt auch heute noch viele in unserer Bewegung an. Ob dieses Ideal, das in der Bibel nirgends vorkommt, tatsächlich so biblisch ist, das sollte sich jeder Leser selbst fragen.

Zwischendurch versucht sich Peterson auch mal in frauenverachtenden Formulierungen, von denen sich jeder Nachfolger Jesu sogleich distanzieren sollte. Jesus war ein Freund der Frauen, der die Vorstellungen der damaligen Kultur deutlich in Schranken wies. Wenn nun Peterson mit Hilfe von Yin und Yang versucht, die gute Ordnung mit dem Männlichen und das böse Chaos mit dem Weiblichen zu verknüpfen, dann haben wir ein Problem. Leider ist auch in der christlichen Subkultur oft eine Angst vor der Frauenbewegung und dem Feminismus da, die zuweilen ähnliche Blüten tragen. Da müssten alle Alarmglocken schrillen. Einerseits wirbt Peterson dafür, dass man sich nicht dem totalitären Stolz hingeben solle, der Unterdrückung hervorbringen würde, aber zugleich schafft er Argumente, mit welchen diese dann wiederum gerechtfertigt werden kann. Dieser Spagat ist typisch für Peterson und findet sich an vielen Stellen im Buch.

Was sollen wir als Evangelikale also mit Peterson machen? Zunächst einmal müssen wir uns fragen und uns darüber klar werden, was unser Ideal ist. Als Christen wissen wir, dass wir in Gottes Bild geschaffen wurden. Hier fängt unsere Weltanschauung an: Wir sind von Gott erschaffen, haben durch Ihn unendlich großen Wert, haben die Erlösung, sind teuer erkauft durch das Blut Jesu Christi, der an unserer Stelle für unsere Schuld und Sünde am Kreuz gestorben ist und uns durch Glauben allein Seine Gerechtigkeit überträgt. Unser Ideal ist nicht im 19. Jahrhundert. Unser Ideal ist Jesus Christus, und ER gibt uns enorm viel Freiheit. Er macht uns wirklich und wahrhaftig frei, damit wir – statt uns um uns selbst herum zu kreisen – unseren Mitmenschen dienen können und sie mit der Wahrheit von Jesus Christus konfrontieren. Wir dürfen für Jordan B. Peterson beten und dürfen uns von ihm zum Nachdenken bringen lassen. Wenn wir aber keine besseren Argumente haben als jene eines sozialdarwinistischen Jungianers, dann müssen wir uns ernsthaft prüfen, ob unsere Sichtweise nicht doch von einem falschen Ideal kontaminiert ist.

Mit dem Campingbus bis Australien

Blum, Bruno, Der weiteste Weg. Mit dem Campingbus bis Australien, Delius Klasing Verlag, 2017, Amazon-Link
Bruno Blum ist mit seiner Freundin unterwegs im Campingbus. 2,5 Jahre haben sie Zeit. Ihr Ziel: Australien. Über viele spannende Erlebnisse berichtet Blum in diesem Buch, auch angereichert mit weiteren, gut recherchierten Infos. Etwa über die Entstehung der Seide und ähnliches. Immer wieder werden sie angehalten, besonders in den ehemaligen Sowjet-Staaten versuchen Polizisten ihren mageren Lohn aufzubessern, indem sie die Touristen finanziell melken. Aber auch viel Gastfreundschaft dürfen sie erleben und werden auf ihrer Reise immer wieder eingeladen, bei Einheimischen ihre Zeit zu verbringen und die verschiedenen Kulturen kennenzulernen. Schon die Motivation für das Reisen finde ich interessant: „Für mich besteht die Faszination zuallererst darin, keinen alltäglichen Verpflichtungen und gesellschaftlichen Zwängen ausgesetzt zu sein. Ungebunden und weit weg von zu Hause fühlt man sich so ungemein lebendig. Man lebt ohne Vergangenheit oder Zukunft; was zählt, ist einzig der Moment. Das Ziel liegt nicht im Ankommen, sondern im Unterwegssein, in der vorüberziehenden Landschaft mit all ihren Farben und Formen und dem Ungewissen, das hinter der nächsten Kurve wartet.“ (S. 8) Für Blum ist das Reisen zu einer „Sucht“ (ebd.) geworden. Ich würde hinzufügen: Es ist auch eine Flucht vor sich selbst; eine Flucht vor der Vergangenheit und der Zukunft, eine Flucht vor Verantwortung.
Das Buch selbst ist mit zahlreichen Bildern versehen und wirklich sehr schön geworden. Fast auf jeder Seite findet sich zumindest ein kleineres Bild, auch gibt es immer wieder doppelseitige Landschaftsaufnahmen von atemberaubender Schönheit. Geschrieben ist es sehr persönlich und spannend, aber auch recht kurz gefasst; fast könnte man sagen: Die 2,5 Jahre sind in enorm komprimierter Form zusammengestellt, aber doch insgesamt in einer stimmigen Form. Es wird nicht jedermanns Sache sein, aber wer Reiseberichte und schöne Bilder in einer hochwertigen Zusammenstellung mag, wird bei diesem Buch auf seine Kosten kommen.

Mord am Kabarett

Die Unterhaltungsindustrie
hat hinterrücks und über Nacht
durch Komiker und Comedy
dem Kabarett den Tod gebracht.
Nicht nur, dass die Kabarettisten
so nach und nach sind ausgestorben,
nein, auch welche sie vermissten,
sind von der Unkunst nun verdorben.
Im Kabarett war’n Philosophen,
intellektuelle, tiefe Denker,
die uns’re Welt vor dem Verdoofen
retten wollten. Doch zum Henker
ging die Kabarettiererei,
als die flachen Komödianten
ihr nicht nur legten gar ein Ei.
Vielmehr mit ihrer hirnverbrannten
Art, sich selbst für klug zu halten
und die Zuschauer für zu blöde,
zeigt, wie sie ihr Programm gestalten:
Selber denken ist doch öde!“
Hat denn einst der Kabarettist
mit Humor auf viele Weise,
die man heute schnell vergisst,
einfach denken gelehrt; und leise.
Doch laut muss nunmehr alles sein:
Schreiend bunt, durchdringend schrill.
Das Kabarett in seiner Pein
starb leis’, allein und still:
Das Messer der Medien in der Brust,
die für uns gerne denken wollen
ist uns’rer Kultur ein arger Verlust;
Erinnerung ist bald verschollen.
Jonas Erne

(10.03.2017)

Die neue Absolutheit

Das Ende der Postmoderne
Obiges Bild habe ich erstellt, um etwas zynisch auf das Ende der Postmoderne hinzuweisen. Seit einigen Jahren beschäftigt mich die Diskussion um die Postmoderne schon, und ich sehe sie in der Gesellschaft immer mehr schwinden. Zunächst ganz kurz: Was ist die Postmoderne? (Man möge mir die fehlende Ausführlichkeit verzeihen, welche es mir unmöglich macht, auf alle Aspekte einzugehen). Die Postmoderne ist eine Bewegung, die aus der Moderne heraus entstanden ist und sich zugleich gegen diese wendet. Hier die wichtigsten Kennzeichen:
Begriff
Moderne
Postmoderne
Vernunft
Letzte Autorität, führt zum Fortschritt
Es gibt keinen Fortschritt. Alles ist gleich gültig und deshalb gleichgültig.
Einheit
Suche nach der Einheit, die alles zusammenhält
Es gibt keine Einheit, nur Vielfalt, wobei alles gleichwertig ist.
Wahrheit
Suche nach der Wahrheit, die mit Hilfe der Vernunft gefunden wird
Es gibt keine Wahrheit, sondern so viele Wahrheiten wie es Kulturen gibt
Sprache
Sprache beinhaltet die Möglichkeit, die Realität adäquat wiederzugeben
Sprache wird dazu missbraucht, um sich die Welt so zu schaffen, wie es einem gefällt und andere damit zu unterdrücken
Die Postmoderne ist aufgekommen, weil die Moderne – der Versuch, die ganze Welt mit Hilfe der Vernunft zu erklären und zu verbessern – gescheitert ist. Zwei Weltkriege mit ihren Abermillionen von Toten haben gezeigt, dass das Projekt Moderne am Ende angelangt ist. Die Moderne war der Versuch, das Übernatürliche aus der Welt auszuschließen und alles im Bereich des Natürlichen zu erklären.
So hat mit der Krise der Weltkriege die Veränderung von der Moderne zur Postmoderne begonnen. Dann kam der Gedanke auf, dass die Welt bestimmt viel friedlicher würde, wenn niemand mehr Wahrheit und Autorität vertreten, sondern man mit Stuhlkreisen und runden Tischen mit viel Toleranz das Gespräch suchen und den Kompromiss finden würde. Doch dieses Denken blieb bei einer Elite von Philosophen und Pädagogen, da sich das Leben nicht im Elfenbeinturm universitärer Arroganz, sondern in der harten Realität abspielt. Spätestens Spätestens wenn jemand nach seinem Einkauf die PIN seiner Karte eingeben muss, wird auch der Postmoderne zwingend zu einem Realisten, sonst müsste er verhungern.
Doch dann kam die nächste Krise, die der Postmoderne schwer zu schaffen machte: Nicht nur hatte sie die Realität gegen sich, sondern eines Tages fielen die Zwillingstürme in New York in sich zusammen. Das war nicht nur ein Angriff auf die USA, sondern ein Angriff auf die westliche Welt, auf die Demokratie, auf die Gesellschaft, welche postmodern geworden war. Auch hier gab es ein Zusammentreffen mit der Realität: Wenn es um viele Menschenleben geht, wenn die eigene Existenz in Frage gestellt wird, dann wird es auch im Elfenbeinturm ungemütlich.
Der Neue Atheismus
Eine Bewegung, die auf diesen Angriff in den USA folgte, war der Neue Atheismus. Er war es, der mich immer mehr zum Nachdenken über die Postmoderne gebracht hat. Der Neue Atheismus ist erfrischend gesprächsfreudig und gibt immerhin eine Basis, auf welcher man sich mit ihm unterhalten kann: Im Normalfall geht er davon aus, dass die Welt um einen herum real ist und nicht nur ein gesellschaftliches Konstrukt. Man kann zwar mit einem Postmodernen wunderbar kontemplativ schweigen (habe ich mir sagen lassen), aber da ist mir das Gespräch mit einem New Atheist deutlich lieber. Leider baut der New Atheism immer mehr auf Aggressivität und Polemik statt auf Argumente, was aber auch damit zusammenhängt, dass häufig Zweiteres mangelhaft ausgebildet ist.
Immer mehr macht sich auch ein neuer Realismus breit. Ron Kubsch hat auf TheoBlog ein paar wichtige Veröffentlichungen dazu besprochen. Vielen Dank für den wichtigen Beitrag, Ron! Der Realismus besagt (wieder sehr stark vereinfacht), dass die Welt um uns herum real ist und wir sie korrekt (nicht vollständig, aber doch adäquat) erfassen und wiedergeben können. Die Frage, ob zuerst die Realität oder zuerst unsere Vorstellung von der Realität da ist, die ist so alt wie die Philosophie selbst und tauchte häufig unter ganz unterschiedlichen Namen und Fragestellungen auf.
Die Gemeinde und der Tod der Postmoderne
Zum Abschluss ein paar Gedanken zur Zukunft der Gemeinde im Zeitalter dieses neuen Realismus. Ich glaube es ist wichtig, dass wir jetzt beginnen, darüber nachzudenken. In vielen postmodernen Gemeinden werden die Glieder mit oberflächlichen, emotionalen Geschichtlein abgespeist. Um geistlich nicht zu verhungern, suchen sie zu tausenden ihre Nahrung im Internet, wo sich nebst einigem Nahrhaftem auch viel Unkraut aufhält. Für den Postmodernen war es weniger wichtig, ob sich eine biblische Geschichte tatsächlich so abgespielt hat. Auf diese Weise hat sich eine ganze Menge an frommer Bibelkritik in ehemals bibeltreue Gemeinden geschlichen. Wenn wir die Herausforderung des Neuen Realismus annehmen, wird eine neue Zuwendung zur absoluten Wahrhaftigkeit und zur Irrtumslosigkeit der Bibel nötig sein. Anderenfalls wird sich die postmoderne Gemeinde in Irrelevanz verflüchtigen.
Weiter wird eine vertiefte Auseinandersetzung mit den tiefgründigen biblischen Lehren nötig sein. Der christliche Realist will die ganze Wahrheit in ihrer Breite und Tiefe kennen. Hier wird ein neuer Schwerpunkt in Systematischer Theologie und Apologetik gebraucht. Das führt aber auch zu neuen Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Denominationen. Deshalb wird hier eine neue konstruktive Streitkultur gebraucht. Was ein Martin Luther in seinen Disputationen gemacht hat, wird es auch heute wieder ganz neu brauchen. Von diesem großen Gottesmann (er war keineswegs perfekt, sondern mit ganz vielen Ecken und Kanten und auch manchen Irrtümern) können wir viel lernen.
Drittens muss der christliche Glaube einen Schwerpunkt auf seine Ganzheitlichkeit legen. Wer sein Leben mit dem Herrn Jesus lebt, dem gehört kein einziger Teil seines Lebens mehr ihm selbst, sondern alles gehört Jesus. Jesus ist der König, der Herrscher, Richter und Erlöser aller Bereiche des Lebens. Das führt auch zu einem neuen Schwerpunkt auf der persönlichen Heiligung. Ein Leben ganz zur Ehre Gottes. Ein Leben, das in aller Gleichgültigkeit einen Unterschied macht. Ein Leben, das die Gesellschaft herausfordert. Ein Leben, dessen Denken, Fühlen, Wollen, Reden, Tun unter Gottes Wort gestellt wird. Tag für Tag neu. Das ist eine Herausforderung, die mich begeistert. Dich auch?

Die schwierige Lehre von Gottes Liebe – Donald A. Carson

Zu Beginn des neuen Lesejahres bin ich auf ein kleines Buch von Donald A. Carson gestoßen. Es heißt „The difficult Doctrine of the love ofGod“. Freundlicherweise bietet Carson manche seiner Bücher zum kostenlosen Download als PDF an. So konnte ich das Buch digital lesen. Wer dieses und noch mehr Bücher von Carson als PDFs lesen möchte, findet hier (Link) die komplette Auswahl dieser PDF-Bücher.

Carson ist Professor für Neues Testament an der Trinity Evangelical Divinity School und auch ein ausgezeichneter Kulturkenner. So verwundert es nicht, dass sein Buch mit einem Überblick über verschiedene evangelikale Missverständnisse von der Liebe Gottes beginnt.

Ich habe das Buch vor allem deshalb mit viel Interesse gelesen, weil mir das häretische Liebesgewäsch zahlreicher Vorzeige-Evangelikaler seit Jahren ein Dorn im Auge ist. Als Erstes muss Carson natürlich erklären, warum er der Meinung ist, dass die Lehre von der Liebe Gottes kompliziert ist. Dies ist laut Carson kein innerbiblisches Problem, sondern in erster Linie ein kulturelles Problem unserer Zeit. Unsere Kultur hat ein kaputtes Verständnis von der Liebe, und das mach die Rede von Gottes Liebe kompliziert. In seinen Worten: The result, of course, is that the love of God in our culture has been purged of anything the culture finds uncomfortable. The love of God has been sanitized, democratized, and above all sentimentalized.“(S. 11)

Ab S. 16 stellt Carson fünf verschiedene Arten vor, wie die Bibel implizit und explizit von der Liebe Gottes spricht. Ich fasse diese in meinen Worten zusammen:

1. Die Liebe Gottes innerhalb der göttlichen Dreieinigkeit. Gott Vater liebt Gott Sohn und Gott Sohn liebt Gott Vater. Beider Liebe ist gleichermaßen perfekt aber in sich selbst unterschiedlich. (Im zweiten Kapitel wird das im Detail ausgearbeitet)..

2. Die Liebe Gottes zu allem, was Er gemacht hat. Carson nennt das die Liebe in der Vorsehung (providential love). Alles, was Gott gemacht hat, war gut, und deshalb das Produkt eines liebenden Schöpfers.

3. Gottes rettende Liebe gegenüber einer gefallenen Welt. Gott hat Seinen Sohn gesandt, um die ganze gefallene Welt auf den Kopf zu stellen. Deshalb hat Jesus Christus auch die Gemeinde gesandt, um allen Menschen das Evangelium zu verkünden.

4. Gottes ganz spezielle effektive Liebe gegenüber den Gläubigen. Zuerst war das Volk Israel Gottes auserwähltes Volk. Von dort wurden auch einzelne Menschen wiederum als Priester oder Propheten, etc. ausgewählt. In Jesus wurde der neue Bund für alle Gläubigen aller Nationen geöffnet.

5. In bestimmten Fällen sind die segensreichen Auswirkungen von Gottes Liebe an eine Bedingung, nämlich Gehorsam, geknüpft. So ist der Gehorsam Jesu gegenüber auch eine sichtbare Darstellung unserer Liebe Gott gegenüber.

Diese fünf Arten der Liebe Gottes haben Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Sie finden alle gleichzeitig statt und sind alle gleichermaßen perfekte Liebe Gottes. Man könnte auch sagen, sie sind verschiedene Ausdrücke derselben Liebe gegenüber unterschiedlichen Empfängern dieser Liebe. Keine der fünf Arten oder Ausdrücke darf überbetont werden, sie haben bei Gott alle denselben Rang.

Das zweite Kapitel „Gott ist Liebe“ behandelt vor allem die sprachlichen Unterschiede der verschiedenen Ausdrücke, die in der Bibel mit „Liebe“ oder ähnlichen Worten übersetzt werden. Das ist eine interessante Debatte, die ich hier aber überspringe. Eine interessante Bemerkung macht Carson zur Heilung Jesu am Sabbat: Yet here is Jesus, claiming the right to work on the Sabbath because God is his Father, and, implicitly, he is the Son who follows in his Father’s footsteps in this regard.“(S. 32)

Wichtig finde ich ganz besonders für unsere heutige Zeit das dritte Kapitel „Gottes Liebe und Gottes Souveränität“. Hier geht es um die Frage, was es bedeutet, dass Gott liebt in der Hinsicht darauf, dass Gott Gott ist und damit perfekt und absolut souverän. Anders gefragt: Kann der absolut souveräne Gott Gefühle haben? Das ist übrigens eine Frage, die auch in Diskussionen mit Atheisten häufig aufkommt.

Etwa in Hosea 11 wird deutlich, dass Gott nicht einfach ein gefühlsloses, stoisch in sich ruhendes Wesen ist. Das ist die eine Seite, von der man vom Pferd fallen kann. Die andere Seite darf aber auch nicht vergessen werden: Ebenso falsch ist es, sich Gott so vorzustellen, dass er sich ständig verändern und seine Meinung in den Wind hängen würde. Gerade diese Diskussion macht das Buch unglaublich wertvoll.

Carson macht klar, dass die Bibel Gottes Unveränderlichkeit lehrt. Gott ist treu, bleibt ewig Derselbe, ist unveränderlich. Daraus haben manche Traditionen eine Lehre von Gottes „Gefühllosigkeit“ (engl. „impassibility“) gemacht. Dazu schreibt Carson: Christians are not fatalists. The central line of Christian tradition neither sacrifices the utter sovereignty of God nor reduces the responsibility of his image-bearers. In the realm of philosophical theology, this position is sometimes called compatibilism. It simply means that God’s unconditioned sovereignty and the responsibility of human beings are mutually compatible.“(S. 51f) Carson zeigt dies etwa am Beispiel von Joseph: Seine Brüder haben eine falsche Entscheidung gemacht. Sie meinten es übel mit ihm. Aber Gott hat genau dieses Übel für etwas Gutes gebraucht. So sind die Brüder vor Gott dennoch für falsches Handeln verantwortlich. Aber Gott gebraucht auch Sünde, um daraus Gutes werden zu lassen.

Carson zeigt auf, dass die Prozesstheologie keine Lösung dieser Frage bieten kann, im Gegenteil, sie stiftet nur Verwirrung. Diese Theorie behauptet, dass Gott das Universum in sich selbst geschaffen hat, also dass es jetzt in ihm ist, und dass Gott sich deshalb auch verändern würde, sobald sich im Universum, bzw. unter uns Menschen etwas verändert. Von einem ähnlichen Konzept geht etwa auch der „Open Theism“ aus, der sich zur Zeit recht schnell ausbreitet. Diese Lehre besagt, dass der Mensch nur dann einen freien Willen haben könne, wenn Gott heute noch nicht weiß, was wir morgen entscheiden werden. So habe Gott – sagt diese Theorie – sich selbst eingeschränkt und verzichtet auf das Vorherwissen unserer Entscheidungen und sei deshalb auch immer wieder erstaunt oder gar erschreckt oder Ähnliches, je nachdem, was wir tun.

Und dann geht es um die Frage, was es bedeutet, dass Gott uns liebt. Hier zwei wichtige Zitate dazu:

He does not “fall in love” with us; he sets his affection on us.“ (S. 61) Gott ist nicht in einer Art wie wir Menschen das kennen „verliebt“. Er wird nicht von den Hormonen gesteuert. Seine Liebe bedeutet, dass Er uns in all unserer Schwäche und Sündhaftigkeit annimmt, indem Er Seine Liebe auf uns richtet. Gott sagt uns also ungefähr:

Your sins have made you disgustingly ugly. But I love you anyway, not because you are attractive, but because it is my nature to love.“(S. 63) Wir haben nichts an uns, was uns für Gott liebenswert macht, also nichts, was Ihn aus uns selbst dazu animieren würde, uns zu lieben. Er tut es trotzdem, weil die Liebe Seinem Wesen entspricht.

Das vierte und damit letzte Kapitel heißt „Gottes Liebe und Gottes Zorn“. Auch hier wieder wertvolle Hilfen zum Verstehen von Gottes Wort:

Where God in his holiness confronts his image-bearers in their rebellion, there must be wrath, or God is not the jealous God he claims to be, and his holiness is impugned. The price of diluting God’s wrath is diminishing God’s holiness.“ (S. 67)

Unser Problem damit ist, dass wir Menschen sehr beschränkt sind. In unserer Erfahrung kennen wir vor allem das ständige Wechseln dieser Gemütszustände. Mal sind wir zornig, dann wieder nicht, und so weiter. Zorn treibt die Liebe aus und die Liebe den Zorn. Aber Gott ist nicht so beschränkt, bei Ihm ist alles zugleich und in absoluter Perfektion.

In other words, both God’s love and God’s wrath are ratcheted up in the move from the old covenant to the new, from the Old Testament to the New. These themes barrel along through redemptive history, unresolved, until they come to a resounding climax—in the cross. Do you wish to see God’s love? Look at the cross. Do you wish to see God’s wrath? Look at the cross.“ (S. 70f)

Am Kreuz sehen wir den Höhepunkt der Heilsgeschichte. Hier sind Gottes schrecklicher Zorn und Gottes unfassbare Liebe beide gleichermaßen fassbar, und keines davon hebelt das andere aus.

Ein lesens- und bedenkenswertes Buch, das mir wohl noch das eine und andere Mal zu knabbern geben wird!

Eine Singkultur entwickeln

Die letzten Wochen ist es ruhig geworden um meine noch nicht abgeschlossene Serie zum Thema „Lobpreiskultur“. Dies hat nicht nur damit zu tun, dass ich nebst dem Bloggen viel anderes zu tun hatte, sondern auch damit, dass der heutige Teil eine ganz besondere Herausforderung ist. Bisher habe ich mich damit befasst, wie man der Gemeinde das Mitsingen einfacher machen kann (Teil 1, Teil 2, Teil 3, Teil 4). Heute möchte ich den Kern des Problems angehen: Viele Menschen singen nicht mit, weil sie keine Gelegenheit hatten, eine Singkultur zu entwickeln. Noch vor einigen Jahrzehnten war es in manchen Berufen üblich, bei der Arbeit zu singen, aber versuche man dies heute mal in der Firma… Vielerorts würde das nicht einmal geduldet. Stattdessen wurde das aktive Singen durch passive Berieselung durch Radio, CD oder Ähnliches ersetzt.
Heute möchte ich ein paar Vorschläge machen, wie man als Gemeinde eine Singkultur entwickeln kann. Ich habe dazu in den vergangenen zwei Monaten einige Blogs und Predigten von Pastoren anderer Gemeinden gelesen und nach Hinweisen dazu gesucht. Eines ist aber wichtig, bevor ich zu den Vorschlägen komme. Wir müssen versuchen, die Hemmschwelle von Anfang an möglichst tief zu halten. Somit sollten die ersten drei oder vier Teile der Serie zumindest überdacht werden, was in der Hinsicht noch vereinfacht werden könnte.
1. Wir brauchen eine tief gegründete Theologie des Lobpreises
Singen ist nicht nur eine Sache, die uns Menschen gut tut. Das stimmt zwar auch, aber ist sekundär. Primär müssen wir sehen, dass wir einen singenden Gott haben. Dies wird in Zephanja 3,17 deutlich. Und weil Gott ein singender Gott ist und uns nach Seinem Bilde geschaffen hat, dürfen wir ein singendes Gottesvolk sein. Lobpreis ist außerdem eine wichtige Art der Antwort von uns Menschen an Gott – oder auch zuweilen ein Gebet oder eine Frage. Lobpreis kann Wunder tun – so etwa die Türen des Gefängnisses öffnen und manch anderes mehr. Beginnen wir also damit, über die Wichtigkeit und Bedeutung des Lobpreises nachzudenken und lassen unser Herz damit erfüllt sein.
2. Wir brauchen eine gesunde Lehre über den Lobpreis
Aus der tief gegründeten Theologie des Lobpreises folgt die gesunde Lehre in der Gemeinde. Wir Menschen tendieren dazu, die Wichtigkeit von Dingen aufgrund der Häufigkeit zu bewerten. Wenn häufig über den Lobpreis gelehrt wird, werden wir ihn auch als etwas Wichtiges empfinden. So braucht es immer wieder eine Erinnerung daran – und zwar nicht nur vom Lobpreisleiter, sondern auch in der Predigt. Es braucht also Predigten über den Lobpreis. Manche Prediger nutzen auch die Predigt-Einleitung, um ein Thema des Lobpreises noch einmal aufzugreifen und zeigen damit, dass er wichtig ist.
3. Wir brauchen gute Vorbilder im Lobpreis
Menschen brauchen sichtbare Vorbilder. Wenn die Ältesten und Leiter der Gemeinde passiv sind im Lobpreis, werden die übrigen Gemeindemitglieder – insbesondere die Männer unter ihnen – sich das zum Vorbild nehmen. Aktive Vorbilder, die mitsingen und sich auch sonst am Lobpreis beteiligen, haben es leichter, eine Singkultur in der Gemeinde zu etablieren. Dabei ist es unwichtig, ob man darin besonders begabt ist oder nicht – das sichtbare Vorbild macht Welten aus.
4. Wir brauchen Lobpreis in allen Bereichen der Gemeinde
Das ist jetzt eine Frage von Gemeindekonzepten. Der Lobpreis soll nicht auf den Gottesdienst am Sonntag beschränkt sein. Sei es bei Lehr- oder Gebetsveranstaltungen, im Kindergottesdienst oder bei den Royal Rangers (oder Jungschar, Pfadfinder oder wie auch immer man das nennt) und in der Jugend. Wenn möglich auch in Hauskreisen und ähnlichen Veranstaltungen. Wenn viel und häufig die Möglichkeit zum Singen geschaffen wird, fällt es leichter, mit einzustimmen.
5. Wir brauchen singende Familien
Ich denke, hier liegt ein großer Knackpunkt. Wer als Kind in der Familie ganz natürlich zum Singen angeleitet wird, hat es auch im späteren Leben viel leichter beim Mitsingen. Ideal wäre natürlich auch eine musikalische Familie, wo zusätzlich gemeinsam Instrumente gespielt werden. Ich persönlich hatte das Privileg, so aufzuwachsen und kann es nur weiterempfehlen. Dies jedoch von jeder Familie zu verlangen, wäre mehr als unrealistisch. Aber zumindest gemeinsame Zeiten des Singens in der Familie – und sei es zu einer leisen Hintergrund-CD – müsste machbar sein. Die heutigen Kinder werden eines kommenden Tages die Instrumentalisten und Sänger in der Gemeinde sein. Durch die Lieder im Lobpreis wird viel wichtige Lehre über Gott weitergegeben. Man darf nicht vergessen, dass die Psalmen mit ihren wunderbaren Aussagen über Gott das Liederbuch, der „Pfingstjubel“ der Bibel sind. Der Befehl von Kolosser 3,16 gilt auch der Familie, sie ist die kleinste Einheit einer göttlichen Versammlung von Menschen.
6. Wir brauchen Anleitung zu allen diesen Punkten
Zum Schluss möchte ich etwas noch einmal verdeutlichen: Nichts von all dem oben Genannten wird einfach so von selbst passieren. Alle diese Punkte brauchen klare Anleitung und Anweisung – und zwar nicht nur einmal, sondern immer wieder. Wir brauchen immer wieder die Reflektion einer Theologie des Lobpreises. Wir brauchen immer wieder Lehre darüber. Wir brauchen immer wieder Ermutigung und Anleitung dazu, wie das in den verschiedenen Bereichen der Gemeinde und auch des Familienlebens umgesetzt werden kann.

Plädoyer für eine deutsche Lobpreiskultur

O Land der Dichter und Denker – wirst nun Dein Richter und Henker?

Nein, heute geht es mir weder um die niedrige Geburtenrate – zumindest nicht unter Menschen – noch um die demografischen Verschiebungen, sondern um die deutsche Lobpreiskultur. War das Land Goethes, Schillers, Luthers und Nietzsches viele Jahrhunderte lang für das großartige kulturelle Schaffen bekannt und weitherum gerühmt, befindet sich nun auch die deutsche Dichtung und Liedermacherei im Abstieg. Drei Dinge sind es vermutlich, welche diese Entwicklung beeinflussen: Der deutsche Selbsthass, der sich immer noch nicht vergeben kann, was in den Generationen davor geschehen war und durch den Versuch der schulischen „Aufarbeitung“ an jede neue Generation weitervererbt wird und zugleich die Internationalisierung, durch die das Englische immer mehr deutsches Texten verdrängt. Wer im Ausland bekannt werden möchte, muss englische Lieder singen, um verstanden zu werden. Ein dritter Grund wird wohl sein, dass sehr viele Lieder aus dem Ausland importiert werden: von Hillsong aus Australien, von der Bethel Church in Redding aus Amerika, und so weiter. Und so geht die deutsche Lobpreiskultur Stück für Stück unter. Doch, wie wir gesehen haben, brauchen wir dringend deutsche singbare Lieder, die alle in der Gemeinde verstehen und von Herzen mitsingen können.
Ein Blick über die Grenze
Was wäre, wenn jeder so sänge und Lieder schriebe, wie ihm „der Schnabel gewachsen ist“? Das hat nichts mit „elitärem Denken“ zu tun, sondern wäre total authentisch. Und was wäre schlimm daran, wenn die einen Lieder auf „guad schwäbisch gsunga“ würden und andere, die sonst „platt schnacken“ oder „hessisch babbele“ auch ihre Herkunft in die Lieder einbrächten? Der Blick über die südliche Grenze zeigt: Es kann funktionieren. Die Schweiz hat seit einigen Jahren eine lebendige Mundartworship-Szene. Eine eigens dafür eingerichtete Homepagegibt Einblick in diese Lobpreiskultur – und meine langjährige Erfahrung als Gemeindegänger in der Schweiz zeigt, dass auch Basler mit berndeutschen Liedern etwas anfangen können. Die Reichweite umfasst die ganze Schweiz, auch aus dem „Bündnarischa“ (Graubünden) und dem geografisch auf der anderen Seite gelegenen Walliserisch finden sich Liedermacher mit ihren Songs. Die sprachlichen Unterschiede sind auch in der Schweiz vergleichbar groß. Und die Lieder werden in der ganzen Schweiz mit viel Freude gesungen – wobei einzelne Worte oft leicht angepasst werden, was aber auch niemanden stört.
Mut zum alten Neuen
Was es braucht, ist Mut. Mut, dazu zu stehen, wer man ist und woher man kommt. Überwindung der Selbstverachtung und des Selbsthasses. Mut zum Neuen, das so neu doch nun auch nicht ist. Die deutschen Lobpreiser mit singbaren Liedern, die auch genügend bekannt sind, um in ganz Deutschland gesungen zu werden, lassen sich an einer Hand abzählen. Albert Frey, Arne Kopfermann, Lothar Kosse, Anja Lehmann, die Outbreakband. Auch von diesen ist manches auf englisch statt auf deutsch erschienen. Was es braucht, ist eine neue Generation von Lobpreisern, die den Mut haben, aufzustehen, neue Lieder zu schreiben, Gott zu ehren mit ihren Talenten und das Ganze in der Sprache, die Gott ihnen in die Wiege gelegt hat. Es mag zwar „cool“ und „in“ sein, Fremdes zu übersetzen und zu reproduzieren, aber Gott hat uns Menschen in Seinem Bild gemacht – zum Agieren und nicht nur Re-Agieren.
Ein Netzwerk von Lobpreisern
Ebenfalls eine große Hilfe wäre ein Netzwerk von Menschen, die gemeinsam die deutsche Szene des Lobpreises prägen, stärken und verändern möchten. Wenn du jemand bist, für den das gilt, so möchte ich dich ermutigen, mit anderen Lobpreisern Kontakt aufzunehmen. Vielleicht ergibt sich dadurch eines Tages ein Netzwerk, in welchem der Austausch, die gegenseitige Hilfestellung und so weiter gefördert werden kann. Nicht jeder kann die „School of Worship“ in Bad Gandersheim oder Ähnliches besuchen. Trotzdem kann man ein solcher Lobpreiser sein. Ich möchte dich dazu ermutigen, dran zu bleiben. Weiter zu machen. Weiter zu schreiben, zu singen, zu spielen. Weiter nach Austausch zu suchen. Mich ermutigt da immer wieder, zu sehen, wie viel Lobpreis es in der Ewigkeit geben wird:
Danach sah ich eine große Menge Menschen, so viele, dass niemand sie zählen konnte. Es waren Menschen aus allen Nationen, Stämmen, Völkern und Sprachen. Sie standen in weißen Kleidern vor dem Thron und dem Lamm und hielten Palmzweige in den Händen. Mit lauter Stimme riefen sie: »Der Sieg gehört unserem Gott, der auf dem Thron sitzt, und dem Lamm!« Alle Engel standen im Kreis um den Thron und um die Ältesten und um die vier mächtigen Gestalten. Sie warfen sich vor dem Thron zu Boden, beteten Gott an und sprachen: »Das ist gewiss: Preis und Herrlichkeit, Weisheit und Dank, Ehre, Macht und Stärke gehören unserem Gott für alle Ewigkeit! Amen.« (Offenbarung 7, 9 – 12)