Allgemeine Offenbarung: Das Gewissen

Was ist das Gewissen? Um dieses Wort ranken viele Miss- und andere Verständnisse. Es ist deshalb sinnvoll, dem Wort einmal nachzugehen. Zunächst ist es interessant, dass die Bibel im hebräischen Alten Testament kein Wort für das Gewissen kennt. Im Volk Israel war klar, dass für die Unterscheidung zwischen gut und böse sowie richtig und falsch die göttliche Ordnung (die Thora, also die 5 Bücher Mose) bekannt sein muss. Somit hat man keinen eigenen Begriff dafür gebraucht. Dennoch kennt das Alte Testament eine Art Zwiespalt im Menschen. Dieser Zwiespalt, den man durchaus als so etwas wie ein Gewissen betrachten kann, sah der Hebräer einfach als Teil des Herzens und bildete somit den Unterschied zwischen einem lauteren (reinen) Herzen und einem unlauteren (unreinen) Herzen.
In der griechischen Antike wurde erstmals ein eigenes Wort für das Gewissen verwendet. Dieses griechische Wort heißt συνειδήσις (syneidesis). Das Wort ist zusammengesetzt aus syn (mit, zusammen, gemeinsam) und einer Form des Verbs oida (wissen). Es heißt somit eigentlich „Mitwissen“. So wurde es zuerst auch gebraucht: Wenn ich Augenzeuge eines bestimmten Vorgangs geworden bin, so habe ich ein Mitwissen bekommen. Der Mitwisser ist zu einem Zeugen geworden, der den Angeklagten (den Täter des Vorgangs) entweder belasten oder entlasten konnte. Das ist der Ursprung des Wortes.
So wurde dann mit der Zeit immer mehr der innere Zwiespalt eines Menschen zum Inhalt des Wortes Gewissen. Im Menschen sind zwei verschiedene Ichs, die gegeneinander Anklage erheben oder sich gegenseitig freisprechen. Dieser Wandel der Bedeutung war im 1. vorchristlichen Jahrhundert vollzogen, damit haben wir die Basis, um den Gebrauch des Wortes im Neuen Testament zu betrachten. Die bisherige Darstellung der Geschichte des Wortes habe ich mit Hilfe des Abschnitts „synoida“ von Dr. Christian Maurer in: Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Bd. VII ab S. 897 erarbeitet.
Im Neuen Testament kommt syneidesis in 22 Versen vor; davon gut die Hälfte bei Paulus. Über das erste Vorkommen kann gestritten werden, da es in Johannes 8,9 steht, wo es um die Ehebrecherin geht. Manche Bibelausleger leugnen die Echtheit diesen Berichts. Zwei Vorkommen sind in der Apostelgeschichte, einmal in 23,1 wo Paulus von seinem reinen Gewissen erzählt. Hier kann man auf die alttestamentliche Vorstellung des reinen Herzens zurückgreifen. Dasselbe gilt auch für 24,16, wo wiederum Paulus von seinem reinen Gewissen spricht.
In den Briefen von Paulus wird es interessant, vor allem in der ersten Stelle, welche auch das wichtigste Vorkommen des Wortes in Bezug auf die natürliche Offenbarung ist. Wenden wir uns also diesem wichtigen Abschnitt zu:
Denn alle, die ohne Gesetz gesündigt haben, werden auch ohne Gesetz verlorengehen; und alle, die unter dem Gesetz gesündigt haben, werden durch das Gesetz verurteilt werden — denn vor Gott sind nicht die gerecht, welche das Gesetz hören, sondern die, welche das Gesetz befolgen, sollen gerechtfertigt werden. Wenn nämlich Heiden, die das Gesetz nicht haben, doch von Natur aus tun, was das Gesetz verlangt, so sind sie, die das Gesetz nicht haben, sich selbst ein Gesetz, da sie ja beweisen, daß das Werk des Gesetzes in ihre Herzen geschrieben ist, was auch ihr Gewissen bezeugt, dazu ihre Überlegungen, die sich untereinander verklagen oder auch entschuldigen — an dem Tag, da Gott das Verborgene der Menschen durch Jesus Christus richten wird nach meinem Evangelium. (Römer 2, 12 – 16)
Zuerst müssen wir uns fragen, wo dieser Abschnitt im gesamten Fluss des Römerbriefs steht. Der Römerbrief ist nämlich nicht eine Reihe von einzelnen Themen, die irgendwie aneinandergereiht sind, sondern eine riesige Abhandlung darüber, wer der Mensch ist, was sein Problem ist, wie Gott das Problem des Menschen gelöst hat und wie der Mensch zu dieser Lösung kommen kann. Diese riesige Abhandlung beginnt mit Römer 1,16 und geht bis Römer 15,13. Deshalb kann man diesen Abschnitt nicht einfach herauspicken und ihn dann so verstehen, wie es einem gerade passt. Schauen wir uns den Abschnitt im Flow des ganzen Briefs an.
Paulus geht es im ersten großen Teil des Briefs, der Römer 1,18 – 3,20 umfasst, zu zeigen, dass jeder Mensch aus sich selbst verloren ist. Jeder Mensch hinkt dem Standard, den Gott gesetzt hat, hinterher. Paulus macht klar: Die Juden, welche das Alte Testament haben, stehen vor Gott nicht besser da als die „Heiden“, also die, welche Gottes Wort nicht haben. Wie wir schon im Teil über die Schöpfung gesehen haben, ist jeder Mensch, der seine Umwelt sehen kann, ohne Entschuldigung vor Gott, denn er hat durch alles, was er sehen kann, die Möglichkeit, Gottes Existenz, Größe, Macht und Güte festzustellen. Das nimmt ihm also jede Entschuldigung. Und jetzt sagt Paulus: Noch ein Zweites gibt es, was jedem Menschen zur Verfügung steht. Ich möchte hinzufügen: Dieses Zweite gilt wohl noch umfassender für jeden einzelnen Menschen, denn so kann sich niemand mehr mit Blindheit oder anderen Problemen der Sinne entschuldigen.
Erinnern wir uns kurz: Die Juden haben gesagt, dass man Gottes Wort braucht, um das Richtige und das Falsche zu erkennen und unterscheiden zu können. Damit haben sie ein Stück weit recht: Den Willen Gottes kann man nur in Gottes Wort erkennen. Wir brauchen die Bibel dazu. Was jedoch jedem Menschen gegeben ist, das ist das Wissen darum, dass es Richtig und Falsch, Gut und Böse, Gerecht und Ungerecht überhaupt gibt. Und dieses Wissen, so sagt Paulus jetzt, dieses Wissen hat jeder Mensch tief in sich eingepflanzt. Egal wie sehr ein Gewissen abgestumpft ist, jeder Mensch hat das Verlangen, gerecht behandelt zu werden. Er hat ein Gewissen, er ist ein Mitwisser mit Gott darum, dass es Gut und Böse gibt. Und jetzt setzt Paulus noch eins oben drauf und sagt: Hey, ihr Juden, ihr braucht euch gar nichts darauf einzubilden, dass ihr Gottes Wort habt, denn in allem haltet ihr euch auch nicht daran! Also seid ihr nicht besser dran als die „Heiden“, die Gottes Wort nicht haben, sondern nur ihr Gewissen! Also bildet euch bloß nichts darauf ein!
Das ist also das Gewissen: Jeder, der das Bedürfnis hat, gerecht behandelt zu werden, weiß damit auch um die Existenz von Gut und Böse. Wer Gottes Wort nicht hat, findet in sich dennoch eine Richtschnur, die besagt, was gerecht und was ungerecht ist. Paulus fährt wieder fort und sagt: Die Menschen, die Gottes Wort nicht haben, die haben dennoch das Werk des Gesetzes in die Herzen geschrieben. Ihr Herz ist also ein Richter über ihr Leben und ihr Verhalten.
Und hier liegt noch ein weiteres Missverständnis vor: Aus diesem Abschnitt wird häufig gefolgert, dass Menschen, die ohne Gottes Wort zu kennen, aufwachsen, einfach so vor Gott bestehen könnten. Das sagt Paulus hier jedoch nicht. Paulus sagt lediglich: Der Mensch hat ein Gewissen, das jede seiner Handlungen beurteilt und entweder als richtig oder als falsch einstuft (ob das jetzt mit Gottes Maßstab übereinstimmt, bleibt fraglich). Da aber jeder Mensch früher oder später das schlechte Gewissen kennenlernt, wird jeder durch sein schlechtes Gewissen vor Gott verurteilt. Es geht in dem Abschnitt also nicht darum, wie jemand vor Gott gerecht sein kann – im Gegenteil – es geht lediglich darum, dass am Ende jeder mit einem Scherbenhaufen vor Gott stehen wird. Wie man diesen Scherbenhaufen loswerden kann, darum geht es erst ab Römer 3,21.
Die Schöpfung Gottes und das Gewissen des Menschen, diese zwei Dinge zusammen bilden die natürliche Offenbarung. Johannes Calvin schreibt dazu wieder sehr treffend:
Man kann aus diesem Vers also nicht gut einen Beleg für die Kraft unseres Willens herauslesen, als wollte Paulus sagen, die Befolgung des Gesetzes sei in die Kraft unseres Willens gestellt; er redet auch nicht von dem Vermögen, das Gesetz zu erfüllen, sondern lediglich von dessen Erkenntnis. Vollends steht das Wort „Herz“ hier nicht für den Sitz der Affekte, sondern wird nur in dem Sinne von Einsicht gebraucht […]. Außerdem darf man daraus nicht schließen, die Menschen verfügten von sich aus über die vollständige Erkenntnis des Gesetzes, wo doch ihrem Geist, was die Gerechtigkeit anlangt, höchstens ein paar Samenkörner eingepflanzt sind. Dazu gehört, dass ausnahmslos alle Völker sich religiöse Institutionen schaffen, dass sie Ehebruch, Dienstahl und Mord nach Gesetzen strafen oder sich in Handelsgeschäften auf Treu und Glauben verlassen. Es ist ihnen, wie sie damit bezeugen, offenbar nicht verborgen, dass man Gott verehren muss, dass Ehebruch, Diebstahl und Mord ein Übel, Redlichkeit hingegen etwas Lobenswertes ist. Dabei spielt es keine Rolle, wie sie sich Gott vorstellen oder wie viele Götter sie sich zurechtlegen. Es reicht, dass sie erkennen: Es gibt einen Gott, dem sie Verehrung und Dienst schulden.“ (Calvin, Johannes, Studienausgabe, Römerbrief Bd. 1, S. 127)

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