Buchtipp: Unterleuten

Unterleuten von Juli Zeh

Zeh, Juli, Unterleuten, btb Verlag München, 4. Aufl. 2017, 643 Seiten, Verlagslink, Amazon-Link

Vielen Dank an den btb-Verlag für das Rezensioinsexemplar.

Was geschieht, wenn junge Menschen in ein kleines, langsam am Alter und Wegzug aussterbendes Dorf ziehen und dort etwas bewirken möchten? Richtig! Dann kommen die ganzen eingekellerten Leichen zum Vorschein.

Unterleuten ist ein kleines Dorf in Brandenburg. Auf den ersten Blick scheint alles idyllisch und wunderbar. Doch dann ziehen zwei Paare neu ins Dorf und wagen es, an der hübsch verpackten Oberfläche zu kratzen. In Unterleuten hat sich das Leben mit den Jahrzehnten eingespielt. Da gibt es versteckten Neid, unausgesprochene Missverständnisse, die bei jeder Gelegenheit aufbrechen, ein destruktives Machtgefälle von Abhängigkeiten und so manche persönliche Schrulle der Bewohner, die zusätzliches Streitpotenzial birgt. Und dann kommt die Energiewende mit den Plänen für Windenergie. Ein junger Mann aus Freudenstadt (man lese und staune!) kommt nach Unterleuten, um den Unterleutnern das Unternehmen schmackhaft zu machen, Windräder in ihrem Dorfgebiet aufzustellen. Der Vogelschützer startet eine Unterschriftensammlung gegen das Projekt. Es kommen ganz außergewöhnliche Allianzen zusammen – und am Ende stellt sich heraus, dass keiner wirklich etwas gegen das Projekt hat. Nur – das Projekt, das der Gegner unterstützt, muss doch boykottiert werden. Am Ende gibt es mehrere Verletzte und einen Selbstmord. Und natürlich darf auch der Automechaniker nicht fehlen, der durch einen Unfall sein Gedächtnis verloren hat, der davor aber schon einiges auf dem Kerbholz hatte.

Unterleuten ist ein sehr feinfühliges Buch. Natürlich gibt es rauhe Szenen, aber Juli Zeh versteht es sehr gut, zu kommunizieren, was sie nicht direkt schreibt. Sie beschreibt selten offene Gewalt, lässt diese aber im Kopf des Lesers entstehen. Sie spielt mit Gefühlen und Worten, die oftmals mehrdeutig und mehrschichtig sind, die den Leser ganz in ihren Bann ziehen und doch so lebensnah, dass man sich in viele Charaktere hineinfühlen und mit ihnen mitfiebern kann.

Landleben ist, wenn die Nachbarn mehr über einen wissen als man selbst. Das kommt immer wieder sehr gut zum Ausdruck. Die Autorin beschreibt den Strudel der Gedanken in verschiedenen Personen, der diese mit sich reißt und unterschwellig vollkommen falsche Vorstellungen vom Anderen schafft. Diese Gedankenstrudel erinnerten mich des Öfteren an Rodion Romanowitsch Raskolnikow in Dostojewskis „Schuld und Sühne“, wenngleich Zeh viel feinfühliger schreibt. Von der Psychologie der Charaktere gleichen sich die beiden Autoren in verschiedener Hinsicht. Da ist zum Einen eben gerade dieser Gedankenstrudel, das vereinsamte Eingeschlossensein der Personen: Rodion durch die Armut als junger Student, Kron durch seine Eigenart, sich an alles zu erinnern und jede Ungerechtigkeit rächen zu wollen. Zum Anderen aber auch durch die äußerlichen Folgen dieser Gedanken und Einsamkeit, die sich sowohl körperlich (Krankheit), als auch in Taten niederschlagen.

Auch die zahlreichen Veränderungen, die sich in den neuen Bundesländern seit der Wiedervereinigung abgespielt haben, werden recht gut beschrieben. Viele Menschen sind abhängiger voneinander geworden. In Unterleuten besonders von Rudolf Gombrowski, der die meisten Arbeitsplätze geschaffen und sich auch nach Auflösung der LPGs für deren Erhaltung eingesetzt hat. Diese Abhängigkeit schafft Neid auf das wachsende Machtgefälle, das natürlich auch politische Vorteile für Gombrowski schafft. Dieser will jedoch seinerseits nur das Beste für die Menschen und versteht den Hass nicht, den manche gegen ihn hegen und der mit zunehmenden Plänen in Sachen Windkraft auch immer stärker öffentlich zu Tage tritt.

Und dann darf natürlich auch der „windige Spekulant von außen“ nicht fehlen, in Person von Konrad Meiler. Dieser hatte sich bei einer Auktion ein ziemlich wertloses Stück Land in Unterleuten zu einem horrenden Preis gekauft, wobei sich herausstellt, dass genau dieses Land ein Teil des möglichen Grunds für den Windpark ausmacht – aber zu wenig groß ist, weshalb er anderen Bewohnern noch einen Flecken Land zusätzlich abzukaufen versucht. All diese Personen werden im Roman aufeinander losgelassen, jede verfolgt ihre eigene Agenda, jeder möchte bestimmte Ziele erreichen, natürlich alles zum Besten für das Dorf, und genau dieser Mix macht den Roman sehr spannend. Immer wieder legt Zeh falsche Fährten aus, die den Leser hinters Licht führen und verwirren. Doch mit der Zeit entsteht aus diesem Puzzle ein Bild, das auf einen Orkan an Hass und Zorn hinweist. Und wieder ist der Schluss nur ironisch zu verstehen. Der Orkan bleibt aus, ein laues Lüftchen weht mit Gombrowskis selbstgesuchtem Ende den Spott der Autorin ins Bild: „Noch ein letztes Mal in die Irre geführt!“

Der Schluss irritiert. Wie auch bei „Leere Herzen“. Was ist die „Agenda“ der Autorin? Was möchte sie mit ihrem Buch erreichen? Ok, sie erreicht eines: Eine Offenheit für andere Standpunkte. Das ist ein grundsätzlich wertvolles Anliegen. Doch wieder tendiert die Gesamtschau ihres Buches in eine Richtung, die ich inzwischen als moralischen Relativismus bezeichnen möchte. Im Sinne des Sprichwortes: „Wer für alles offen ist, ist nicht ganz dicht.“ Die Ironie, die zahlreichen eingebauten Finten, der irritierende Schluss zeigen eine Autorin, die sich nicht festlegen möchte. Die beiden Romane, die ich bisher von ihr gelesen habe, atmen eine Art Libertarismus im moralischen Sinn: Jeder möge nach seiner Fasson selig werden, und bitte jeden anderen in wiederum seiner Fasson belassen, denn am Ende ist es einfach wie es ist, gleich-gültig.

Ich gebe dem Buch vier von fünf möglichen Sternen.

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