Eine Reise zum Herzen der Psalmen: Klagepsalmen

Dies ist der zweite Teil unserer Reise zum Herzen der Psalmen. Zum ersten Teil geht es hier (Link). Wer sich mit den Psalmen beschäftigt, wird über eine Tatsache stolpern: In den Psalmen wird oft geklagt. Es geht um Sorgen, um Nöte, um Schmerzen. Wenn wir das mit vielen heutigen Gebeten vergleichen, dann fällt der Unterschied ziemlich krass auf. Die meisten frei formulierten Gebete (und auch sehr viele vorformulierte) sind in gewisser Weise triumphalistisch. Oberflächlich. Kleingläubig. Oder einfach gebetsautomatmäßig. So als ob Gott ein Automat wäre, der auf unser oben eingeworfenes Gebet dann antwortet, wenn der Betrag stimmt.

Jesus hat anders gebetet: Er hat auch geklagt

Ich schrieb im ersten Teil schon, dass die Psalmen im Grunde genommen auf die Kommunikation von Gott zurück gehen. Gott ist ein singender Gott, und Gott hat die Psalmen schon gekannt und festgelegt, bevor es Menschen gab, die sie aufschreiben konnten. Viele der Klagepsalmen gehen auf die Zeit zurück, als Jesus auf der Erde war. Oops – sie wurden doch schon Jahrhunderte früher aufgeschrieben? Oh ja – und genau das ist das Geniale: Der Heilige Geist sagte David und den weiteren Psalmschreiber durch ihr persönliches Leben schon früher, wie es Jesus einst gehen wird. Ganz deutlich wird das in Psalm 22, den Jesus am Kreuz betete.

Gerade in den vergangenen Wochen wurde mir eines deutlich, als ich die drei Bände von Philip Schaffs „Creeds“ (Link) las, also eine sehr umfangreiche Sammlung von Glaubensbekenntnissen und Katechismen aus vielen Jahrhunderten und aus vielen verschiedenen christlichen Konfessionen und Denominationen. Für die Christen der meisten Jahrhunderte war klar, dass Jesus nicht erst am Kreuz litt. Das Leiden am Kreuz, der Tod und die Auferstehung sind natürlich der Höhepunkt davon, und sie sind es, die uns erlöst haben. Aber das Leiden war etwas, was den Herrn Jesus Sein ganzes menschliches Leben lang begleitete. Und das wird oft vergessen oder viel zu wenig betont. ER litt unter den Kleinglauben der Jünger. ER litt unter dem Anblick des Volkes Israel, das wie Schafe ohne Hirten war. ER litt unter dem Anblick der Krankheiten und der dämonisierten Menschen. Jesus weinte. Litt. Betete. Klagte.

Das Klage-Gebet: Der sicherste Ort für deine Nöte

Wir haben es verlernt, zu klagen und zu beten wie Jesus. Und wie die Apostel. Und wie die meisten Christen vieler Jahrhunderte. Es gibt in unserer Zeit eine sehr ungesunde Tendenz und Gewohnheit unter uns: Wir nähern uns Gott sehr oberflächlich, tun so, als ob alles in Ordnung wäre. Und stattdessen klagen und murren wir lieber da, wo andere Menschen zuhören, die an der Situation nichts verändern können. Das macht etwas mit uns: Es verbittert. Viele Menschen haben sich so an das Klagen und Murren vor Menschen, an das Lästern und Hintenrum-Gerede gewöhnt, dass sie sich schon gar nicht mehr vorstellen können, wie es ohne Grund zum Lästern wäre.

Lass dir eins gesagt sein: Das Gebet ist der beste Ort, an den du mit deiner Klage und deinen Sorgen gehen kannst! Gott fordert uns in Seinem Wort geradezu auf, unsere Sorgen auf Ihn zu werfen, weil ER für uns sorgen will (1. Petrus 5:7). Wenn wir es nicht tun, sondern zu Gott nur oberflächlich kommen und stattdessen unsere Sorgen lieber mit anderen Menschen teilen, klagen und murren, dann geben wir dem Teufel Raum, so dass er uns verbittert machen kann.

Psalm 6: Ehrliche Klage verändert alles

Ich möchte dich einladen, den Psalm 6 in deiner Lieblingsbibel und am besten auch noch in einer oder zwei anderen Übersetzungen mal durchzulesen. Es ist nicht so viel Arbeit, aber sie lohnt sich umso mehr. Es sind nur elf Verse. David kommt zu Gott mit vielen Klagen, mit Vorwürfen. Wie lange, Gott, wie lange lässt Du Dir Zeit? Wie lange soll ich noch leiden? Wie lange noch lässt Du zu, dass mich meine Feinde bedrängen? Mein Bett ist nass von meinen Tränen! Darf man so beten?

David macht das Richtige. Er geht mit seiner Klage nicht zu seinen Freunden. Er geht nicht in den Hauskreis, um über seine Feinde abzulästern. Er geht nicht zu seinen Nachbarn, um ihnen zu erzählen, wie lange es ihm schon ach so schlecht geht. Nein, er geht damit zu Gott. Er richtet seinen Blick auf den Schöpfer des Universums, auf den König der Könige. Mir wurde bei diesem Psalm ganz besonders bewusst: Auf Gott schauen ändert nicht unseren Fokus oder Blickwinkel – es ändert alles. Wenn es nur unseren Fokus ändern würde, dann würden wir uns ständig durch Blickwinkelveränderung selbst erlösen müssen. Doch Gott sei Dank, dass ER uns beständig hält und unseren Blick immer wieder auf Ihn richtet.

Für wen beten wir?

David betet. Er klagt. Er schreit. Er macht Vorwürfe. Das ist alles vollkommen in Ordnung. Er macht es für sich und für Gott. Er macht es nicht, um damit Aufmerksamkeit von anderen Menschen auf sich zu ziehen. Jesus sagte etwas Krasses in der Bergpredigt: Wenn du armen Menschen etwas gibst, es aber so tust, dass es möglichst viele sehen können, dann hast du damit keine Schätze im Himmel gesammelt, sondern deinen Lohn (nämlich die Aufmerksamkeit) schon bekommen. Ich glaube das ist das Problem auch beim Beten: Viele Menschen, die sich Klage-Gebete angewöhnt haben, bekommen ihren Lohn schon auf der Erde. Viel wird für die Aufmerksamkeit geklagt, nicht für die Beziehung zu Gott.

Ich glaube, wenn mehr in der stillen Kammer geklagt würde, könnte man auch mehr Veränderung sehen.

Wo bleiben die Apologetinnen und Apologeten unserer Zeit?

Ich weiß nicht, wie es Dir geht, lieber Leser, aber mich treibt eine Sache um, und zwar von Jahr zu Jahr stärker. Ich sehe Menschen, besonders junge Menschen, Teenager und junge Erwachsene, die wissen wollen. Sie wissen, dass Wissen wichtig ist. Dass auch die Ehrlichkeit wichtig ist. Dass Wahrheit wichtig ist. Sie wissen, dass es nicht nur ums gute Gefühl geht. Sie wissen, dass der Wissensunterschied die eigene Zukunft enorm verändern kann. Sie wollen wissen. Sie wollen das Wissen, das ihr Leben bestimmen soll. Und sie haben Fragen. Wertvolle Fragen. Weltbewegende Fragen. Ehrliche Fragen, die eine ehrliche Antwort verdienen.

Wo stehen viele Gemeinden unserer Zeit?

Und dann sehe ich gleichzeitig viele gleichgültige Gemeinden. Nicht total gleichgültig, aber in diesen Fragen gleichgültig. Ohne lebensverändernde Wahrheit, die das Leben von außen her in Frage stellt und von innen her verändern will. Gemeinden, die sich selbst zu wichtig nehmen. Gemeinden, die sich entweder abschotten oder verweltlichen. Beide haben diesen Menschen nichts mehr zu sagen. Die einen sehen sich als kleiner holy club, die letzten Heiligen der Endzeit, die so heilig sind, dass alle weniger Heiligen ausgestoßen bleiben. Es herrscht eine Angst davor, von der Welt kontaminiert zu werden und dadurch schlechter da zu stehen. Es herrscht aber auch eine Angst davor, durch Fragen und Zweifel kontaminiert zu werden, nicht alle Antworten zu kennen und mehr noch: Selbst von Zweifeln „angesteckt“ zu werden.

Und dann gibt es andere Gemeinden, die ähnlich egoistisch und selbstbezogen sind. Sie wagen es nicht, klare biblische Lehre und einen verbindlichen ethischen Maßstab zu bezeugen. Sie fürchten um ihr Image in der Welt. Sie sind lieber in der Ökumene am Diskutieren, mit welchem genauen Wort man möglichst inklusiv sein kann. Und im interreligiösen Dialog am Bezeugen, wie doch alle irgendwie etwas Ähnliches glauben. Auch hier finden diese Menschen keine Antworten. Wenn diese Christen ständig am Herumeiern sind und etwas mal so und dann wieder ganz anders erklären, finden sie den Halt nicht, den sie suchen. Sie werden vertröstet: Wahrheit sei kein Buch, sondern eine Person, und eine Person lasse sich nicht genau definieren und beantworten. Eine Person sei dynamisch, und deshalb sei Wahrheit dynamisch, undefinierbar, und Glaube kein Wissen. Zweifel werden nicht beantwortet, sondern der Zweifler gelobt und zur Spezies der Zukunft, sozusagen zum Übermenschen, erhoben.

Geistliche Väter und Mütter gesucht!

Hier stehe ich nun und frage: Wo sind die geistlichen Väter und Mütter dieser Generation? Wo sind die Menschen, die sich mit den Fragern zusammensetzen und sich die Zeit nehmen, ihre Fragen zu durchdenken? Wo sind die Männer und Frauen, die den Zweiflern helfen, Antworten auf ihre Zweifel zu finden? Wo sind die Gemeinden, die vorleben, wie man mit Fragen und Zweifeln umgehen kann, wo und wie man Antworten findet? Wir leben in einer strategischen Schlüsselzeit, und der Teufel weiß um die Wichtigkeit dieser jungen Generation. Hier und jetzt wird sich entscheiden, ob der Westen zum neuen Heidenland wird. Ob Gemeinden an Überalterung aussterben werden, weil sie nicht mehr fähig sind, diese Fragen zu beantworten.

Es ist auch eine Schlüsselzeit, weil der Kampf der Ideologien und Weltbilder tobt wie selten zuvor. Es ist eine Zeit des geistigen Vakuums, eine Zeit, in der die Ansichten in der globalisierten Welt auseinander driften und immer extremer und lauter geäußert werden. Das kurze Zwischenspiel des Postmodernismus hat sich als Sackgasse erwiesen, doch in vielen Gemeinden wird ihr so hinterher getrauert, dass man sich noch in der Phase der Leugnung befindet. Es wird nach wie vor getan, als sei die Ideologie des Postmodernismus die Antwort auf die Probleme unserer Zeit. Es gibt auch noch genügend Christen, die si8ch ebenfalls so verhalten, weshalb es innerhalb geschlossener Gemeindesysteme noch nicht so stark auffällt. Überhaupt war es schon immer so, dass die Gemeinden rund 25 – 30 Jahre brauchten, um die Zeit um sich herum wahrzunehmen und auf sie zu reagieren. Und es ist nicht das erste Mal, dass dabei Gemeinden so enorm selbstzentriert waren, dass die Menschen auf der Strecke blieben.

Brauchen wir eine Erweckung?

Immer wieder, wenn dies der Fall war, schenkte Gott eine Erweckung. So etwa zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als in den Berliner Kirchen die historisch-kritische Theologie weit verbreitet war und sich die Kirchen leerten. Durch Johannes Jänicke und Baron Hans Ernst von Kottwitz kam eine Erweckung über Berlin, die durch die Gründung der Evangelischen Haupt-Bibelgesellschaft weitere Verbreitung fand und noch mehrere Jahrzehnte lang positive Nachwirkungen hatte. Von Kottwitz gründete außerdem viele Betriebe, in welchen Menschen Arbeit fanden und dadurch auch ihr Umfeld zum Guten verändern konnten. Zudem war er mit Ernst Ludwig von Gerlach befreundet, der mit seinem Bruder Leopold und dem Unternehmer Friedrich Stahl die Kreuz-Zeitung gründete, eine Zeitung, die noch viele Jahre führend war in den Kreisen der Erweckungsbewegung. Diese Menschen haben Berlin und ganz Preußen mit Gottes Hilfe verändert, indem sie die eine, unveränderliche Wahrheit für ihre Zeit verständlich und kompromisslos predigten und sich für eine bessere Welt einsetzten, indem sie Gott nach bestem Wissen und Gewissen gehorchten und ein Leben vorlebten, das Gottes Willen zeigte. Keiner von ihnen war perfekt, sie alle hatten ihre Schattenseiten, aber Gott gebrauchte sie.

Wir leben in einer ähnlichen Zeit. Auch in immer mehr Freikirchen wandert die historisch-kritische Theologie ein und findet auf den Kanzeln einen Platz. Nur selten wird die liberale Theologie als das erkannt, was sie ist: Ein Kampfmittel des Teufels, um die Gemeinden zu lähmen und zu leeren. Statt der Lehre zieht die Leere ein. Junge Menschen finden hier keine Antworten, seit etwa 15 Jahren bekommen sie bessere Antworten von den „Neuen Atheisten“, die es verstehen, den uralten Atheismus in neue Worte zu kleiden und ihn in hippem Gewand zu präsentieren: Als Wissenschaft, die immerzu zunimmt und anpassbar ist und doch zugleich letztgültige Antworten auf die Fragen der Menschen zu liefern versucht. Es kommt zu einer Spaltung der Gesellschaft in politisch links und politisch rechts orientierte antichristliche Weltanschauungen, die versuchen, Menschen mit ihren Antworten zu gewinnen. Willkommen auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten!

Und hier kommen wir ins Spiel: Wer ist bereit, in seinem Umfeld für die Fragen, Sorgen, Ängste, Nöte, Zweifel und Freuden der Menschen da zu sein, gut zuzuhören und ehrliche Antworten zu geben, die etwas von der Schönheit Gottes widerspiegeln? Nicht die alten, vereinfachten Antworten, mit denen viele von uns aufgewachsen sind, sondern echte, gut durchdachte Antworten, in ein persönliches Leben aus der Kraft des Heiligen Geistes heraus gekleidet. Aus einem Leben, das man sehen, fühlen, anfassen und hören kann. Das ist Apologetik, die unsere westliche Welt braucht. Bist Du bereit dazu?

Eine kurze Geschichte des Cessationismus

Heute möchte ich in aller Kürze versuchen, die Geschichte des Cessationismus nachzuzeichnen. Der Cessationismus besagt ja bekanntlich, dass bestimmte Charismen oder Geistesgaben bereits aufgehört hätten. Im Laufe der 2000 Jahre Kirchengeschichte gab es immer wieder kleinere Bewegungen, die diesen Cessationismus vertreten haben. Wir müssen uns jedoch bewusst sein, dass die Vorstellungen und Begründungen dazu Legion sind. Auch heute gibt es eine ganze Menge verschiedener Cessationismen, die etwa von unterschiedlichen Gaben meinen, dass sie aufgehört hätten und das dann auch sehr unterschiedlich begründen. Es wäre natürlich spannend, eine ausführliche Geschichte des Cessationismus zu schreiben und die diversen Ausprägungen noch näher zu beleuchten, aber hier geht es mir darum, dass wir verstehen, welche Hintergründe er in welcher Zeit und Gesellschaft hatte.

Die frühchristlichen Theologen im 2. Jahrhundert, unter ihnen etwa Justin der Märtyrer, versuchten mit ihren Schriften den damaligen Juden klar zu machen, dass Jesus doch der Messias ist. In diesen Schriften finden wir Argumente, welche zeigen, dass es schon unter manchen jüdischen Strömungen frühe Formen des Cessationismus gab. Jesus wurde vorgeworfen, ein falscher Prophet zu sein. Für die christlichen Theologen hingegen war klar: Weil die Juden ihrer Zeit keine Wunder mehr vorzuweisen hatten, die christliche Kirche hingegen zahlreiche auch im 2. Jahrhundert, deshalb sei daraus zu schließen, dass die christliche Lehre richtig sein muss.

Der erste christliche Theologe, der eine vollständige Lehre des Cessationismus entwickelt hat, war Johannes Chrysostom („Goldmund“) im 4. Jahrhundert. Er meinte, ein Glaube, der keine Wunder sehen könne, sei ein wertvollerer, echterer Glaube als jener, welcher sich darauf berufen könne, Wunder gesehen zu haben. Interessant ist aber auch der Kirchenvater Augustinus. Dieser war zuerst auch Cessationist, doch im Buch 22 des „Gottesstaats“ zählt er ein ganzes Kapitel lang Wunder auf, die ihn dazu gebracht haben, seine Meinung zu ändern.

In der frühen Kirche war es also ganz natürlich, auf die Wunder und Prophetien, Heilungen und Dämonenaustreibungen zu verweisen, um für den christlichen Glauben Argumente zu präsentieren. Erst mit der Zeit, als eine gewisse Hierarchie aufgebaut war, und langsam das spontane Wirken des Heiligen Geistes durch die geplante Ausübung von Sakramenten durch die Priesterkaste ersetzt wurde, gab es seltener Berichte, die davon zeugten, dass Wunder und Prophetien zum ganz normalen Christenleben dazu gehörten. Immer mehr nahmen feste Rituale den Platz des Heiligen Geistes ein und vermutlich ist der Rückgang dessen Wirkens deshalb auch kein Wunder. Nichtsdestotrotz gibt es aus jedem Jahrhundert zahlreiche Beispiele für einzelne Menschen, die einen charismatischen Dienst hatten.

Im Zeitalter der Reformation kam ein weiteres Merkmal hinzu: Die Abgrenzung von den falschen Lehren. Im Hochmittelalter gab es in den Klöstern und an Wallfahrtsorten immer wieder Berichte von Heilungen und anderen Wundern; man könnte fast sagen, es war eine Resaissance der Wundersucht. Und dann, als die Reformatoren auftraten, wurde oft als Argument gebraucht, um die Reformatoren zum Schweigen zu bringen, dass die Lehre des römisch-katholischen Kirche durch diese Wunder bestätigt würden. Das Argument war also ungefähr so: Je mehr Wunder du vorweisen kannst, desto besser ist deine Lehre. Das war da so der übliche Vergleich, wer den Längsten hat. Oder so.

Und dann gab es noch eine zweite Gefahr. Es gab Menschen, welchen die Reformatoren zu wenig weit gingen. Es gab welche, die meinten, sie bräuchten so viel Freiheit, dass sie ohne Bibel auskämen. Nur mit dem Heiligen Geist. „Das Wort tötet, der Geist macht lebendig“, zitierten sie, und schmissen ihre Bibeln mitsamt diesem Vers in die Ecke, um nur noch auf den wort-losen Geist zu hören. Auch unter diesen Gruppen gab es Berichte von Wundern, die wiederum als eine Bestätigung der besten Lehre betrachtet wurden. Und nun ist es wichtig, diese Dinge im Hinterkopf zu behalten, wenn man die Schriften der Reformatoren liest. Wer lange genug sucht, wird immer wieder Stellen finden, die sich für sich gesehen so verstehen lassen, dass Luther oder Calvin „klassische“ Cessationisten gewesen wären. Im Kontext und im Gesamtwerk betrachtet wird hingegen deutlich, dass es vor allem darum ging, dass sie gegen eine Abwertung der Bibel als Gottes Wort und Heiliger Schrift argumentierten. Auch das spätere Luthertum war keineswegs der Meinung, dass es keine besonderen Eingriffe Gottes durch Wunder oder Prophetien geben könne. Es wurde lediglich gegen das theologisch liberale „Schwärmertum“ gewettert, welches Gottes Wort degradierte.

Erst die Aufklärung, das naturalistische Weltbild und die Philosophie des „Common Sense“ haben den Rahmen geschaffen, innerhalb dessen der klassische Cessationismus wachsen konnte, der dann von Benjamin B. Warfield vertreten und ausgearbeitet wurde. Das naturalistische Weltbild betrachtete alles in der Welt als natürlich, und wurde zunächst noch auf das Fundament des christlichen Glaubens gestellt, nach welchem die Gesetze der Natur von Gott geschaffen wurden. Doch bald verließ es dieses Fundament und die Naturgesetze und -konstanten wurden zunehmend als grundlos einfach vorhanden und zufällig vorgegeben betrachtet. Die schottische Philosophie des „Common Sense“ besagte zudem, dass alle vernünftig denkenden Menschen in den wichtigen Fragen zu denselben Resultaten, Antworten und Wahrheiten kommen müssten. Von diesem Denken geprägt machte sich der Theologe Benjamin Warfield daran, Bücher über falsche Wunder und den Cessationismus zu verfassen. Auch er hatte seine Ansichten unter dem Druck seiner Zeit schmieden müssen. In der Presbyterianischen Kirche der USA nahm der theologische Liberalismus überhand. Sein Kollege in Princeton und Zeitgenosse James Gresham Machen hatte den selben Kampf zu kämpfen; er schrieb das Buch „Christentum und Liberalismus“. Warfield ging es darum, in einer Zeit der Verwässerung der Bibel Gottes Wort hochzuhalten, und zwar um jeden Preis. Entsprechend sahen seine Kriterien für ein echtes, biblisches und von Gott gemachtes Wunder aus: Es konnte unter gar keinen Umständen mehr eines geben. Vermutlich war ein weiterer Grund für seine Ansichten auch biographischer Art: Seine Frau Annie wurde infolge eines Blitzschlages gelähmt und blieb es Zeit ihres Lebens, während er sie pflegte. Es ist gut möglich, dass dieses Nicht-Erleben einer übernatürlichen Heilung seiner Frau seine Ansichten gefestigt haben.

In der Zeit von Warfield war auch die Sekte der „Christlichen Wissenschaft“ (Christian Science) von Mary Baker Eddy sehr weit verbreitet. Das war eine Sondergruppierung, die sich darauf berief, dass Heilungen, die in dieser Gruppe geschehen seien, ein Beweis für die Richtigkeit der Lehre sei. Anmerkung am Rande: Einmal mehr der unselige Vergleich, wer den Längsten vorweisen kann. Allerdings zeigt die Theologiegeschichte sehr deutlich, dass man die Irrtumslosigkeit und Inspiration der gesamten Bibel sehr gut verteidigen und sich gleichzeitig an Gottes heutigem Wirken und Reden erfreuen kann. Deshalb ist es wichtig, dass wir uns darüber Gedanken machen und uns auch fragen, welches gute und welches weniger gute Argumente für das heutige Wirken des Heiligen Geistes in unserer Zeit sind.

Nach dem Jubiläum ist vor dem Jubiläum

Das Reformationsjubiläum war ein totaler Flop. Millionen wurden für nichts und wieder nichts in den Sand gesetzt. Ich habe mich dabei gefragt, ob das einfach nur blinde Naivität war, oder ob es zu einer Strategie gehört, dass man eine „Lutherdekade“ ausrief, um so viel von Martin Luther zu plappern, bis keiner mehr den Namen hören kann. So könnte man natürlich problemlos die Reformation in der Senke verschwinden lassen: Wenn keiner mehr davon hören will, kann man ja dann einfach davon schweigen, und auf Nachfrage immer darauf verweisen, dass ja eh schon alles gesagt worden sei in dieser Dekade, und dass es erst mal reiche. So könnten sich die Kirchen wieder ihren politischen Agenden zuwenden, das Evangelium erneut vergessen und wieder den Jakobus- gegen den Römerbrief ausspielen, Petrus gegen Paulus, und Jesus gegen den ganzen Rest der Bibel. Das wäre eine bequeme Lösung; so käme man Rom und der säkularen Welt immer näher.
Ich bin dafür, dass wir weiter von Martin Luther und der Reformation reden. Ich bin dafür, dass wir die zahlreichen, auch durch die Lutherdekade geschürten Vorurteile abbauen und für eine immer zu reformierende Kirche kämpfen. Sie ist immer gemäß der Bibel zu reformieren. Deshalb: Nach dem Jubiläum ist vor dem Jubiläum. Ich kann nicht schweigen von den großen Dingen, die Gott durch die Reformation und viele darauffolgende Erweckungen getan hat. Kirchengeschichte ist Erweckungsgeschichte, und dafür bin ich unendlich dankbar. Ich bete weiter für Erweckung und Reformation – zunächst brauchen wir Reformation, eine Rückkehr zur Bibel und zum einfachen, kindlichen Vertrauen in Gottes Wort. Nach dem Jubiläum ist vor dem Jubiläum: Wir dürfen jeden Tag Gott danken für alle Gestalten der Kirchengeschichte, die – allesamt weit entfernt von perfekt – von Gott mächtig gebraucht wurden, damit Menschen zum lebendigen Glauben an Jesus Christus gefunden haben. Und wir dürfen den Stab aufnehmen und selbst darum ringen, diese Arbeit fortzuführen. Immer gemäß dem ganzen, unbeschädigten und unfehlbaren Wort Gottes, der Bibel.

 

Das Problem der Buchstabe-vs-Geist-Argumentation

Ich möchte heute auf das Problem der Buchstabe-vs-Geist-Argmentation eingehen. Dabei werde ich jedoch diesmal nicht exegetisch vorgehen. Das habe ich hier (Link) schon getan. Wer das diskutieren möchte, mag in jenem anderen Artikel kommentieren. Vielleicht komme ich mal noch dazu, das Ganze etwas zu erweitern.
Heute werde ich nur ein Beispiel unter die Lupe nehmen, wohin dieses Argument in der Kirchengeschichte schon geführt hat. In der Zeit nach dem Unabhängigkeitskrieg im neu entstandenen Amerika war die Bibel ganz wichtig. Wer etwas erreichen wollte, musste mit der Bibel argumentieren. Das war eine gute Sache. Doch dann gab es eine Frage, und die hatte es in sich. Es ging um den Streit in der Sklavenfrage. Wer sich mit der Sklavenfrage aus biblischer Perspektive beschäftigen möchte, kann meinen Artikel dazu hier (Link) lesen und kommentieren.
Das Problem in Amerika war: Es gab die Sklavenhalter, die mit der Bibel argumentierten, und Befürworter der Abschaffung der Sklaverei, die mit der Bibel argumentierten. Und da stellte sich die Frage: Wie geht man damit um? Alle lesen die gleiche Bibel; alle sagen, sie würden die Bibel allein lesen, und doch kam man auf unterschiedliche Antworten. Es gab verschiedene Argumente auf beiden Seiten, und doch hat sich auf der Seite derer, welche die Sklaverei abschaffen wollten, ein Argument besonders hartnäckig gehalten. Dies ging folgendermaßen: Dem Buchstaben nach befürwortet die Bibel eigentlich Sklaverei, aber wer dem Buchstaben folgt, wird in die Irre geführt, denn der Buchstabe tötet. Zwischen den Zeilen gibt es aber noch den Geist, und dieser Geist Christi will die Abschaffung der Sklaverei.
Eins war klar: Es gab viele, deutlich bessere Argumente gegen die Sklaverei. Und doch hat sich dieses eine (in Wirklichkeit falsche) Argument letztendlich durchsetzen können. Denn: Warum sollte man sich lange mit verschiedenen guten Argumenten herumplagen, wenn man mit dem Bulldozer-Argument alle gegnerischen Argumente plattwalzen konnte? So wurde das Bulldozer-Argument vom Geist Christi, der dem Buchstaben der Bibel entgegengesetzt sei, beliebt. Und am Ende sah es so aus, als könnte man nur mit einer Hermeneutik der Bibelkritik gegen die Sklaverei sein. Zu allem Überfluss war es dann auch noch genau dieser Winkelzug, welcher die historisch-kritischen Methoden (sog. „German higher criticism“ da der Ursprung dieser Methoden in Deutschland lag) in die Denominationen der USA brachte. Heute sind leider viele der großen Denominationen in den USA von dieser Kritik verseucht. Wir sehen somit, dass dieses Argument eigentlich kein Argument, sondern lediglich eine Eisesgese (hineinlesen von etwas, was nicht da steht) ist und darüber hinaus auch der Bibelkritik Tor und Türe öffnet. Im Grunde genommen ist das Argument schon Bibelkritik, denn es wird der Heilige Geist, der ja der Urheber der ganzen Bibel ist, gegen den Wortlaut der Bibel ausgespielt.
Das amerikanische Problem lag jedoch noch etwas tiefer. Die Verwendung des Arguments ist nur ein Symptom einer philosophischen Krankheit namens „Common Sense“. Diese Philosophie ist in Schottland entstanden und hat sich in Amerika um die Zeit der Unabhängigkeit herum rasant verbreitet. Sie besagt, dass der gesunde Menschenverstand und die menschliche Wahrnehmung die oberste Autorität des Menschen sein soll. Mit einer solchen Philosophie im Hinterkopf ging es denn im Kampf um die Sklaverei an die Bibel ran. Man wollte die Bibel allein mit „Common Sense“ lesen und verstehen. Das ist an sich ein nobles Unterfangen, welches jedoch zum Scheitern verurteilt ist.
Wir wisse heute, dass jeder irgendwelche Voraussetzungen an die Bibel heranträgt. Daher ist es gut, wenn wir uns beim Bibellesen auch immer wieder bewusst werden, worum es da geht. Was wir brauchen, ist eine Hermeneutik. Hermeneutik ist eine Art Regel, die uns hilft, dass wir uns dabei aufs Wesentliche konzentrieren. Ich möchte zum Schluss drei der wichtigsten Regeln dazu kurz vorstellen:
1. Kontext ist King. Kontext ist der Text, der um etwas herum ist, zum Beispiel das eine Kapitel, in dem ein Vers steht. Dann das Buch, in dem das Kapitel steht. Dann die Schriften des jeweiligen Autors. Und nicht zuletzt auch die Frage, wie diese Einheit in die ganze Bibel hineinpasst. Wer hat das geschrieben? An wen wurde es geschrieben? Unter welchen Umständen wurde es geschrieben?
2. Heilsgeschichte beachten. Die ganze Bibel hat einen roten Faden. Dieser rote Faden ist die Heilsgeschichte. Diese Geschichte beginnt mit Gottes Schöpfung aus dem Nichts, geht weiter mit dem Sündenfall und danach beginnt die Geschichte Gottes mit der Wiederherstellung der Beziehung des Menschen zu IHM. Diese Geschichte kulminiert am Kreuz von Golgatha. Dort am Kreuz ist der Mittelpunkt der gesamten Weltgeschichte. Alles was jemals in dieser Welt passiert ist, deutet aufs Kreuz hin oder vom Kreuz weg in die noch ausstehende Wiederkunft Jesu und die Ewigkeit.
3. Jesus als „rosa Brille“. Eine „rosa Brille“ färbt alles rosa. So ähnlich ist es, wenn wir alles durch den Herrn Jesus anschauen, was wir in der Bibel lesen. Mit dem Unterschied, dass uns die „rosa Brille“ verblendet, während uns die Jesus-Brille erleuchtet und alles in den richtigen Farben erstrahlen lässt.

Selbstgezimmerte Geschichte

Dies ist der dritte Teil einer Serie. Hier geht es zu Teil 1, Teil 2 und Teil 4. In diesem Teil möchte ich der Frage nachgehen, wie Siegfried Zimmer in seinem Buch mit der Geschichte und insbesondere der Kirchengeschichte umgeht.
Was sind Glaubensbekenntnisse?
Interessant ist der Umgang von Zimmer mit den altkirchlichen Glaubensbekenntnissen. Es scheint, als würde er diese durchaus über die Bibel stellen. Die Bibel darf kritisiert werden, das Apostolische Bekenntnis darf nicht einmal hinterfragt werden: „Glaubensbekenntnisse sind aber eine besondere Sorte von Texten. Es sind Basistexte, die das Entscheidende zusammenfassen wollen. Sie sind von vornherein in der Absicht geschrieben worden, vielen Menschen eine verbindliche Orientierung zu geben.“ (S. 50) Soweit gut und richtig, aber Zimmer verkennt damit grundsätzlich, dass diese Bekenntnisse aus einem Kontext und einer Zeit stammen. Sie sind – im Gegensatz zur Bibel – nicht inspiriert und somit auch nicht unfehlbar. Außerdem ist es nicht ganz korrekt, wenn Zimmer nur sagt, dass sie das Entscheidende zusammenfassen wollen. Sie wurden vielmehr in den Diskussionen der frühen Kirche um die richtige Lehre verfasst, das heißt, sie widerspiegeln immer auch die notwendigen Abgrenzungen gegen die Irrlehren der jeweiligen Zeit.
Warum also war die Bibel in den frühen Glaubensbekenntnissen nicht enthalten? Nach der frühen Kritik der Bibel durch den Marcionitismus (Marcion sagte, dass das AT und große Teile des NT, eigentlich alles, was judenfreundlich war, nicht vom Gott der Bibel stammen könne, weil der jüdische Gott der Widersacher des christlichen Gottes sei) und nachdem der Umfang der Bibel (Kanonisierung) von der ganzen frühen Kirche bestätigt war, gab es für viele Jahrhunderte keinen Zweifel mehr an der Bibel. Sie wurde als von Gott inspiriert, fehlerlos und oberste Autorität für Lehre und Leben betrachtet. Das änderte sich erst im Zuge der Aufklärung. Es gab somit keine Notwendigkeit, die Lehre von der Bibel in einem Glaubensbekenntnis unterzubringen, weil sie allgemein anerkannt war.
Worüber es hingegen längere Diskussionen gab, war die Lehre vom dreieinen Gott und besonders die Natur Jesu Christi: Dass Er gleichzeitig ganz Mensch und ganz Gott ist und dass diese zwei Naturen weder vermischt noch getrennt sind, und was das für den Glauben und die Erlösung genau bedeutet. Deshalb wurde die Person Jesu Christi in den Bekenntnissen so ausführlich behandelt. Wir sehen also: Das Glaubensbekenntnis ist nicht einfach nur eine Kurzfassung von allen wichtigen Punkten, sondern vor allem ein Dokument, aus dem man die jeweils wichtigen und zur jeweiligen Zeit diskutierten Themen erkennen kann. Deshalb liegt Zimmer auch mit seinem Argument falsch, dass die Bibel im Apostolikum absichtlich nicht erwähnt wurde (S. 50) Mit den Jahrhunderten kam es jedoch zu einer anderen Entwicklung: Innerhalb der katholischen Kirche bekam die Tradition und das päpstliche Lehramt dasselbe Gewicht wie die Bibel – mit anderen Worten: Es ging darum, dass theologische Laien die Bibel nicht selbst lesen durften oder konnten, weil sie sie ja falsch auslegen könnten. Im Zuge der Reformation kam deshalb wieder die Frage nach der Lehre von der Bibel auf, und Luther machte klar, dass die ganze Bibel Gottes Wort ist und sie alleingenügsam ist und jeder sie selbst lesen und verstehen kann.
Bei Zimmer findet sich übrigens eine ähnliche Entwicklung wie in der katholischen Kirche des Mittelalters: Um die Bibel richtig zu verstehen, bedarf es des Lehramts der historisch-kritischen Theologie. Kein Wunder, dass Zimmer und die übrigen Redner von Worthaus zu einer Art Papst für progressive Evangelikale werden. Das neue „Anathema“ heißt nun einfach „fundamentalistisch“ und „granatendoof“.
Martin Luther als Bibelkritiker
Die Lieblingsfigur Zimmers ist Martin Luther. Wie so manch ein anderer liberaler Theologe vor ihm findet er in den Schriften Luthers allerlei, was er nach eigenem Gusto gebrauchen kann. Die 120 Bände der Weimarer Ausgabe der Werke Luthers sind schließlich eine gute Fundgrube. Da darf man nicht vergessen, wie Luther von allen Seiten unter Angriffen stand und dass auch er eine Entwicklung durchgemacht hat (wie übrigens alle anderen Reformatoren auch). Luther musste an allen Fronten zugleich kämpfen: Spiritualistische Täufer, die meinten, sie bräuchten wegen dem Heiligen Geist keine Bibel mehr, skeptische Freunde wie Erasmus, Katholiken, die ihn wieder zurecht bringen wollten, Bilderstürmer, die am liebsten alles ausgerottet hätten, was sie irgendwie an die katholische Zeit erinnern konnte, und so weiter. Mit all diesen Problemen setzte Luther sich aktiv auseinander – und das findet sich nun in dieser Werksausgabe. Kein Wunder, dass sich da einiges findet, was sich zu Rechtfertigungszwecken aller möglichen Agenden eignet.
Martin Luther kannte zwei Kategorien der Bücher: Solche, die zum biblischen Kanon dazu gehören, und andere, die es nicht tun. Er schrieb zu den Apokryphen, dass sie wertvoll zu lesen seien, aber ganz klar von der Bibel zu unterscheiden sind. Ich gebrauche dazu gern den Vergleich: Die Apokryphen sind ungefähr so, wie wenn ich einige der Predigten von C. H. Spurgeon in der Bibel mitdrucken würde. Diese Predigten sind sehr erbaulich zu lesen, aber sie sind nicht Gottes inspiriertes Wort.
Innerhalb der Bibel hatte Martin Luther bestimmte Präferenzen, etwa für den Brief an die Römer. Diese Präferenz kann ich sehr gut nachvollziehen. Sie ist bei Luther wie bei mir biographisch bedingt. Martin Luther wurde das Evangelium klar, als er Römer 1, 16 – 17 studierte und er begriff, dass Gottes Gerechtigkeit ihm durch Jesus Christus zugesprochen und juristisch übertragen wurde. Bei mir war es eine Predigt über Römer 6, 12, die mir den geistlichen Bankrott aufzeigte und ein paar Tage später Römer 10, 9 – 11, die der Heilige Geist nutzte, um mir neues Leben zu schenken. So darf es sein, dass man bestimmte Teile der Bibel einfach ganz besonders wertvoll findet. Trotzdem verbindet Martin Luther und mich auch die Haltung, dass innerhalb der Bibel Gottes Wort überall zu finden ist, und zwar ganz direkt, weil es Gott so wollte. Wenn nun Siegfried Zimmer versucht, Luther als Bibelkritiker zu missbrauchen, ist das sehr weit hergeholt.
In der Auseinandersetzung mit der katholischen Theologie der Scholastik, in welcher auch die Aussagen der Kirchenväter sehr viel Wert beigemessen bekamen, sagte Luther deshalb: „Oder sag, wenn du kannst, wer ist der Richter, der eine Frage abschließt, wenn doch der Väter Aussprüche miteinander kämpfen? Es ist nämlich nötig, dass hier nach dem Wort als Richter ein Urteil gefällt wird, und das kann nicht geschehen, wenn wir nicht der Schrift den obersten Platz geben in allen Dingen, die den Vätern zugeteilt wird, das bedeutet, dass sie selber durch sich selbst das Allergewisseste, Allerleichteste, am allerbesten Zugängliche, das, was sich selbst auslegt, allen alles prüft, beurteilt und erleuchtet.“(Weimarer Ausgabe Bd. VII, S. 97) Hier haben wir Martin Luthers hermeneutisches Prinzip: Die Bibel legt sich selbst aus und nicht irgend eine hysterisch-kritische Methode.
Die Geburt der Bibelkritik
Natürlich kann man einwenden, dass es bereits zur Zeit des Neuen Testaments eine Form der Bibelkritik gab. Die allererste Bibelkritik findet sich übrigens in 1. Mose 3: „Sollte Gott wirklich gesagt haben?“ Marcion, den wir am Anfang erwähnten, war ein Bibelkritiker. Aber die eigentliche systematische Bibelkritik ist im 18. Jahrhundert entstanden – und zwar mitten in der pietistischen Erweckungsbewegung. Nachdem Martin Luther und die übrigen Reformatoren gestorben waren, kam die Frage auf: Wie weiter? Besonders im Luthertum wurde das Bekenntnis zur richtigen Lehre ins Zentrum gerückt. Das ist sehr wichtig und gut, aber es ist eben nicht alles. Das persönliche Leben wurde ausgeklammert, indem man der Lehre diesen Platz zuwies. Im Pietismus wurde das persönliche Element wieder entdeckt. Leider wurde ihm darin so einen prominenten Platz zugewiesen, dass plötzlich alles subjektiv wurde. In diesem Klima las jeder die Bibel für sich und nur mit der Frage: Was will Gott mir heute sagen? Ein Mann wuchs auch so auf im Pietismus. Er wurde Professor an der Universität in Halle. Sein Name war Johann Salomo Semler, und er vertrat die Ansicht, dass die Bibel zwar Gottes Wort enthält, aber dass Gottes Wort darin erst gesucht und gefunden werden müsse. Das war 1771.
1787 hielt Johann Philipp Gabler in Altdorf seine Antrittsvorlesung. Mit ihr begann eine weitere neue Bewegung, nämlich die sogenannte „Biblische Theologie“. Gabler forderte, dass man die Bibel für sich auslegen muss, ohne zuerst die Dogmatik (Systematische Theologie) benutzen zu müssen. In der Biblischen Theologie werden viele Grundfragen geklärt: Wie gehören das Alte und Neue Testament zusammen? Was ist der rote Faden durch die Bibel hindurch? Was bedeutet ein bestimmtes Wort genau an dieser einen Stelle und warum steht genau dieses Wort da? Und so weiter. Leider wurden die Anliegen der Herren Semler und Gabler miteinander vermischt und haben zusammen die historisch-kritischen Methoden begründet. Wer sich für die weitere Geschichte interessiert, findet hier (Link) ein Dokument, das ich dazu zusammengestellt habe. Meine Kritik an der Kritik möchte ich für den nächsten und abschließenden Teil dieser Blogserie aufheben.

5 Arten, wie man mit der Kirchengeschichte falsch umgehen kann

Immer wieder stoße ich in Diskussionen auf Missverständnisse und auch des Öfteren mal auf bewusste Instrumentalisierung und damit Missbrauch der Kirchengeschichte. Solch ein Umgang ist auch in zahlreichen Büchern häufig anzutreffen. Ich stelle heute eine kleine Auswahl der gängigsten Konzepte vor und kommentiere sie jeweils kurz.
1. „Wir leben heute – was geht mich da die Geschichte an?“ So klar würden es wohl die wenigsten ausdrücken, aber diese Haltung ist zunehmend zu bemerken. Geschichte wird als Disziplin der Professoren im Elfenbeinturm der Theorie betrachtet. Der Umgang mit Geschichte, der an der Schule gefördert wird (häufig besteht ein großer Teil des Geschichtsunterrichts aus der Zeit des und seit dem zweiten Weltkrieg, als ob es davor nichts gegeben hätte), hat mit zu dieser Haltung geführt. Geschichtsvergessenheit führt zu Identitätsverlust. Viele Menschen wissen nicht mehr, wer sie sind, sie bestehen nur noch aus den Wünschen und Begierden des Hier und Jetzt.
2. „Wir leben in einer ganz außerordentlich besonderen Zeit – die Kirchengeschichte hat uns schlicht nichts mehr zu sagen.“ So oder ähnlich wird gerne argumentiert, wenn man erklären will, warum das Bisherige einfach weggelassen und unhinterfragt durch das Neue (was auch immer) ersetzt werden soll. Hauptsache wir machen es anders als früher – das Alte ist überholt. Wir leben in einer „Umbruchzeit“, wir sind etwas so Besonderes, da darf man nicht einfach das Bisherige übernehmen. Heutzutage verstehen die Menschen nicht mehr, was früher gepredigt oder gemacht wurde, das muss man weglassen oder ersetzen. Dieses Denken ist Hochmut. Der Mensch ist immer noch derselbe gefallene Mensch, der dieselbe Selbsterkenntnis, Sündenerkenntnis, Gotteserkenntnis und Erlösung braucht wie in jedem anderen Jahrhundert auch.
3. „Die Kirchengeschichte zeigt uns eine Unzahl von gescheiterten Versuchen, die objektive Wahrheit zu erkennen.“ Diese Aussage dient dazu, die gesamte Geschichte mit einer Handbewegung wegzuwischen und damit zu sagen: Das Einzige, was man heute noch aus der Kirchengeschichte lernen kann, ist, es anders zu machen als die Menschen bisher. Der Kirchengeschichte wird vorgeworfen, sie sei an den Spaltungen der Kirchen schuld. Natürlich gab es in der Kirchengeschichte viele Debatten und auch viele nötige Trennungen. Diese sind aber häufig mehr Segen als Fluch gewesen. Das müssen wir anerkennen. Kirchliche Trennungen sollen nicht bewusst gesucht werden, aber häufig sind notwendig, um die Kirche zu schützen.
4. „Die Reformation zeigt uns, dass man sich auch über viele Jahrhunderte hinweg irren kann.“ Nun wird es langsam subtiler. Interessanterweise konnte mir bislang niemand ein wichtiges Thema nennen, in dem sich die gesamte Christenheit während vieler Jahrhunderte geirrt haben soll. Normalerweise haben schwere Irrtümer immer eine oben genannte notwendige Spaltung verursacht, sodass eine der neuen zwei Gruppen die Wahrheit weitergetragen hat und sie deshalb nicht untergegangen ist. Deshalb sollten wir auch heute nicht grundsätzlich spaltungsfeindlich sein. Paulus schreibt, dass Spaltungen manchmal notwendig sind (1. Korinther 11,18-19)
5. „Eigentlich hatte Marcion* doch recht.“ *hier könnte man auch Arius und andere Irrlehrer einfügen. Der deutsche Theologe und Kulturprotestant Adolf von Harnack hatte gewisse Sympathien für Marcion. Marcion hatte behauptet, die Bibel sei verfälscht, das Alte Testament solle kein Teil der Bibel sein und auch andere Bücher des Neuen Testaments, in Jesus und die frühe Kirche den Juden gegenüber freundlich dargestellt werden, ließ er in seinen Gemeinden aus der Bibel entfernen. Übrigens waren die Deutschen Christen im dritten Reich stark von Harnacks Marcion geprägt. Aber auch heute findet man immer mal wieder ähnliche Sichtweisen, die frühe Irrlehrer rehabilitieren wollen. Wenn man den Gott des Alten Testaments gegen den Gott des Neuen Testaments auszuspielen versucht, tut man nichts anderes. Ich bin sehr dankbar für die klaren Worte, die die frühen Konzilien diesen Irrlehren gegenüber gefunden hatten und wünschte mir auch für heute mehr davon.