Buchtipp: Range von David Epstein

Epstein, David, Range – How Generalists Triumph in a Specialized World, Macmillan Verlag, 2019, Amazon-Link

In einer kürzlichen Coaching-Session wurde ich auf das Buch des amerikanischen Journalisten David Epstein aufmerksam gemacht. Es ist gerade für Menschen wie mich, die von sehr vielen Interessen, Ideen und Projekten angezogen sind, sehr interessant und aufschlussreich.

Zu Beginn vergleicht Epstein zwei verschiedene Arten, wie Menschen aufwachsen und lernen können. Er zieht dafür die Biographien zweier Sportler heran, die unterschiedlicher nicht hätten sein können: Tiger Woods und Roger Federer. Während der Golfer Woods von jüngsten Jahren an von seinen Eltern zum Golfen gedrängt wurde, war Roger Federer als Kind nebst Tennis auch beim Fußball aktiv und erfolgreich. Erst als Teenager entschied er sich ganz für den einen Sport, in welchem er es bis an die Weltspitze brachte.

Das ganze Buch hindurch ziehen sich Geschichten, Biographien, Studien. Und da muss ich sagen: Es ist mir etwas zu amerikanisch. Der Versuch, durch eine Vielzahl von Stories eine breitere Leserschaft zu finden, ist typisch für viele amerikanische Autoren. Ich denke da immer: „weniger ist mehr“, denn der rote Faden geht in all den Geschichten immer wieder verloren.

Sehr spannend fand ich, dass die Arbeit von Daniel Kahneman, mit welcher ich mich vor ein paar Jahren bereits beschäftigte, mehrfach aufgegriffen wurde. Kahneman befasst sich viel mit den Ungewissheiten, die eine Entscheidungsfindung in offenen Systemen erschweren. Spezialisten sind gut bei Aufgaben, die ein relativ geschlossenes System voraussetzen. Etwa Schach hat ein geschlossenes System von Regeln, die immer gleich sind. Ein Schachcomputer kann Millionen von Schritten berechnen und aufgrund von bisherigen Schachspielen mit einigermaßen großem Erfolg vorausberechnen, was ein menschlicher Gegner wahrscheinlich als Nächstes tun wird. Schachspezialisten können das auf eine ähnliche Weise, doch nicht indem sie vorausberechnen, sondern indem sie das Schachbrett im Kopf in eine Reihe von kleineren Einheiten unterteilen und durch ihre Erfahrung intuitiv ähnlich genau vorhersagen, wohin das Spiel in den nächsten Zügen führt.

Die meisten Aufgaben in unserer Realität sind jedoch offene Systeme, sie haben keine geschlossene Anzahl von Regeln, sondern sind komplexer. Und hier brilliert Epstein in seinem Buch. Er zeigt, dass es gerade für diese Aufgaben immer mehr Generalisten braucht, die sich in ihrem Leben nicht nur auf eine Sache spezialisiert haben, sondern immer wieder Umwege gegangen sind, manchmal auch gehen mussten. Alle neu erlernten Fähigkeiten machen sie besser vorbereitet auf Aufgaben, die komplexer sind.

Spezialisten werden immer wichtig bleiben. Sie sind es, welche Lösungen umsetzen. Sie sind es, welche Geräte herstellen und optimieren. Aber in einer Zeit, in welcher man sich immer mehr mit Problemen in der Realität offener Systeme befassen muss, werden Spezialisten weniger häufig gebraucht. Ich möchte an der Stelle noch etwas zum Buch hinzufügen. Die letzten Jahre haben mir zwei Dinge gezeigt, die sich gerade verändern, die uns noch schneller von der großen Menge an Spezialisten wegführen. Epstein schrieb das Buch 2019, also vor etwa vier bis fünf Jahren. In den vergangenen zwei Jahren hat sich gezeigt, dass Maschinen inzwischen viel Arbeit von Spezialisten übernehmen können. Die weitere Entwicklung von GPT und ähnlichen Programmen sowie in der Welt der Robotik wird sich noch sehr viel tun, was unsere Welt, Berufe, unser Selbstverständnis als Menschen verändern wird. Viele Arbeiten von Spezialisten können nach und nach automatisiert werden und bedürfen lediglich noch menschlicher Begleitung und Überwachung.

Das Zweite, was sich gezeigt hat, ist aber auch, dass wir in einer Welt der Small Data leben. Künstliche Intelligenz, aber auch die Spezialisierung von Spezialisten ist jedoch stark auf Big Data angelegt. Big Data heißt, es gibt sehr viele ähnliche Fälle, die man vergleichen, zusammenrechnen und immer wieder den Durchschnitt findet, während jeder neue Durchschnitt näher an die Wirklichkeit führt. Wir haben uns allzu lange in einem Big-Data-Universum gefühlt.

Doch sei es in der Medizin, bei der Anamnese von Krankheiten oder auf der Straße, wo der Traum vom autonomen Fahren immer weiter davonfliegt: Die Realität ist Small Data, jeder Fall muss einzeln geprüft, abgewägt, reagiert werden. Der Mensch – und speziell noch der Generalist im Besonderen – ist ein Small-Data-Wesen, das für eine Small-Data-Wirklichkeit geschaffen wurde.

Noch einmal zurück zum Buch. Ich möchte mit einem von vielen Beispielen, die man im Buch nachlesen kann, schließen. Der Autor beschreibt eine Studie, die gemacht wurde, in welcher Comic-Autoren verglichen wurden. Interessant dabei ist, dass Autoren umso erfolgreicher darin sind, Comic-Charaktere zu entwerfen, in je mehr verschiedenen Genres sie sich schon probiert haben. Spezialisten für eine ganz bestimmte Art von Comics sind am wenigsten wahrscheinlich erfolgreich.

Ich kann das Buch sehr empfehlen und gebe ihm 4,5 von 5 Sternen.

Die nächsten großen Fragen unserer Zeit

Vieles beeinflusst heutzutage unser Leben, was noch vor wenigen Jahren wie Science-Fiction geklungen hätte, wenn es jemand erzählt hätte. Und jetzt sind wir mitten in der Zukunft. Das braucht uns keine Angst machen, es ist eine enorm spannende Zeit, für die ich dankbar bin. Und so möchte ich ein paar Fragen prognostizieren, die uns die nächsten Jahre beschäftigen werden.

Bislang waren wir uns gewohnt, als Christen in säkularen Bahnen zu denken. Wir konnten manchen Dingen zustimmen und manche ablehnen, aber im großen Ganzen hat unsere Argumentation immer säkulare Elemente enthalten. Schauen wir uns das an einem Beispiel an: Menschenwürde. Wir haben betont, was den Menschen vom Tier trennt und das dann als das genuin Menschliche betrachtet, was dem Menschen diese Würde gibt. Das ist nicht ganz falsch, aber es wird nicht länger ausreichend sein. Es gibt auf der einen Seite viel Forschung dazu, wie weit Tiere dem Menschen ähnlich sind (emotionale Reaktion, Kommunikation, etc.) und auf der anderen Seite ein großer Zweig der Forschung an „künstlicher Intelligenz“ mit sehr lernfähigen Algorithmen. Wir müssen lernen, das Menschsein ganz neu zu denken, und zwar von der Bibel, Gottes Wort, her. Ich werde hier nur Fragen aufwerfen, noch keine Antworten geben. Erste Frage lautet also: Was ist der Mensch? Was macht seine Würde, sein eigentliches Menschsein, aus?

Mit der Frage nach dem Menschen hängen zwei weitere Fragen ganz eng zusammen, die auch neu unter Beschuss kommen werden: Wer ist Gott? Und hier ist es ebenso wichtig, sich nicht von der säkularen Begrifflichkeit zu nähern, sondern die Antworten direkt aus der Bibel zu gewinnen. Häufig werden philosophische Konzepte in die Theologie hinein geschmuggelt, welche dann zu einer einseitigen Auflösung mancher Spannungen führen. So etwa die philosophische Vorstellung eines Determinismus, die dann die Vorstellung einer doppelten Prädestination prägt, oder die Systemtheorie oder Prozesstheologie, Offener Theismus, und so weiter, welche allesamt zu ziemlich abenteuerlichen Schlüssen führen. Oder dann werden säkulare romantische Vorstellungen über eine bedingungslose Liebe in die Theologie geholt, die dann alles umzudeuten versuchen. Hier müssen wir lernen, unsere Weltanschauung von der Bibel und zwar von ihr allein prägen und vorgeben zu lassen.

Ebenfalls stark mit dem Menschenbild verknüpft ist unsere Vorstellung von der Realität. Die „Enhanced“ oder „Mixed“ Reality (also „erweiterte“ oder „gemischte“ Realität), die durch den technologischen Fortschritt schon länger am Entstehen ist und unsere Zukunft enorm prägen wird, stellt uns vor die Frage, was eigentlich real ist und was nicht. Sehr viel am Menschen kann chemisch und elektronisch manipuliert werden. Viele Menschen lagern ihr Wissen in externe Geräte wie Smartphone aus und lassen dadurch die Struktur ihres Denkens nachhaltig verändern. Was also ist Realität? Was kann der Mensch wissen und wie entsteht dieses Wissen? Teile des Internets schaffen durch Algorithmen immer häufiger Filterblasen, innerhalb welcher der Nutzer nur noch das findet, was ihn in seiner Sichtweise bestätigt. Fake-News werden im großen Stil verbreitet. Was ist real? Was ist wahr? Hier sind wir herausgefordert, für die absolute, ewig und universal gültige Wahrheit Gottes einzutreten und eine echte, authentische Realität in unserem Leben fassbar zu machen.

Eine vierte Frage, die uns beschäftigen wird, betrifft Freiheit und Gerechtigkeit. Was bedeutet Freiheit in einer Welt, die alles überwachen kann, und in der doch so vieles unsicher und ungewiss ist? Was ist Gerechtigkeit? Kann es so etwas wie „soziale Gerechtigkeit“ geben oder ist das ein Widerspruch in sich selbst? Oder ist es gar nur eine leere Worthülse, die gern genutzt wird, um damit alles Mögliche zu begründen? Fragen über Fragen, und es ist hochinteressant, sich damit von der Bibel her kommend zu befassen.

Es werden auch noch weitere Fragen auf uns zukommen, aber ich möchte es mal bei diesen ersten und meiner Meinung nach dominierenden Fragen belassen. Ich meine, dass unser Nachdenken über diese Fragen damit anfangen muss, dass wir beginnen, die Bibel ganz neu zu lesen. Häufig finden wir in der Bibel nur das, was wir schon immer gewusst und schon oft gelesen haben. Das ist auch ein wenig sowas wie eine Filterblase. Jedes Jahr bei der neuen Jahres-Bibellese wieder eine Bestätigung dessen, was man ja eh schon wusste. Ich möchte uns herausfordern, nach dem Abenteuerlichen, Schockierenden oder Überraschenden zu suchen. Ich bin häufig enttäuscht über unsere Übersetzungen der Bibel, weil so viele Texte eingeflacht sind, sie werden verharmlosend übersetzt; wohl um die Leser nicht zu erschrecken. Aber wenn Paulus im Philipperbrief über all seine Privilegien als jüdischer Schriftgelehrter nachdenkt, dann findet er diese im Vergleich zu Jesus Christus so ziemlich kacke (in Philipper 3,8 wird häufig mit „Dreck“ übersetzt, was besser in Fäkalsprache wiedergegeben werden sollte). Das darf uns schockieren, es darf uns aus unserer Komfortzone rausjagen, denn die Bibel wurde nicht für unseren Komfort gemacht, sondern eher für unsere Komm-fort-und-folge-Mir-nach-Zone. 

Wir brauchen eine neue Leidenschaft für Jesus Christus, eine Leidenschaft, die uns bereit macht, allen Komfort, alle Ehre der Welt, alle weltliche Anerkennung hinter uns zu lassen und von Jesus Christus, dem Gekreuzigten und Auferstandenen zu sprechen. Sein stellvertretendes Sühnopfer am Kreuz auf Golgatha ist das Zentrum und der rote Faden der ganzen Bibel. Vom Sündenfall an in 1. Mose 3 wussten die Menschen vom Messias, den Gott senden wird, damit Er an unserer Stelle für unsere Sünde stirbt, und das Buch der Offenbarung ist ein prophetisches Buch, das die Auswirkungen des Kreuzes zeigt: Ein Gottesvolk von Menschen aus allen Stämmen, Nationen und Sprachen. Überall in der Bibel ist die Rede von Jesus Christus, der den einen ein Stolperstein und anderen eine Torheit ist. Das wird sich nicht ändern – es wird noch zunehmen. Es wird zunehmend schwieriger werden, „auf beiden Beinen zu hinken“ oder lauwarme Christen zu sein. Aber das ist auch gut so – es fordert uns heraus, uns ganz und gar Gott hinzugeben und uns von Ihm verändern zu lassen. Die Zeit, in der man das Kreuz irgendwie humanistisch umdeuten konnte, ist endgültig vorbei. Was soll jemand mit einem humanistischen Kreuz, wenn er den Humanismus auch kreuzlos haben kann? Das Kreuz bezahlt unsere Schuld, besiegt Satan, wäscht uns rein, nimmt unsere Schmach und unsere Krankheit und gibt uns die vollendete Gerechtigkeit Jesu Christi. Darum geht es. Und wer meint, er habe das nicht nötig, wird sich lieber eine Selbstwertgefühlstherapie suchen, die ihm einredet, wie gut er in sich selbst sei. Was dabei herauskommt, wird spätestens die Zeit zeigen.

Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit

Berger, Peter L., Luckmann, Thomas, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, S. Fischer Verlag Frankfurt a. M., 20. Aufl. 2004, Amazon-Link
Wie schreibt man über ein Buch, das viele wertvolle und zum Nachdenken anregende Gedanken enthält, während man der gesamten These des Buches diametral gegenüber steht? Kein einfaches Unterfangen, wie ich immer wieder feststellen muss. Vielleicht ist der beste Einstieg ins Thema mit einem Zitat von Neil Postman gefunden. Postman schreibt zu den Sozialwissenschaften: „Ich nenne die Forschungen dieser Leute Geschichtenerzählen, weil das Wort darauf hinweist, dass der Verfasser einer solchen Geschichte einer Reihe von menschlichen Ereignissen eine unverwechselbare Deutung gegeben hat, dass er diese Deutung durch vielfältige Beispiele erhärtet hat und dass seine Deutung nicht bewiesen oder widerlegt werden kann, sondern ihren Reiz aus der Kraft ihrer Sprache schöpft, aus der Tiefendimension ihrer Erklärungen, aus der Triftigkeit ihrer Beispiele und der Glaubwürdigkeit ihres Stoffes. […] Es gibt keine Prüfverfahren, um sie zu bestätigen oder zu falsifizieren. Es gibt keine Postulate oder Voraussetzungen, in denen sie verankert sind. Sie sind an eine Zeit und eine Konstellation gebunden und vor allem an die kulturellen Vorurteile des Forschers.“ (Neil Postman, Die Verweigerung der Hörigkeit, S. 25) Dieses Zitat bringt ziemlich deutlich auf den Punkt, wo das Buch von Berger und Luckmann einen blinden Fleck hat. Die Autoren sehen ihre Arbeit als eine Art von Wissenschaft wie sie die Biologie, Chemie oder Physik auch ist. Und im negativen Sinne gesehen haben sie damit sogar ein Stück weit recht. Auch die „harte“ Wissenschaft verkommt immer mehr zu einer subjektiven Suche nach Erklärungen für die Realität, um bestimmte Thesen zu bestätigen. Doch das weiter auszuführen würde an dieser Stelle zu weit führen.
Zu Beginn grenzen die Autoren ihre Aufgabe ein, und zwar, indem sie sich von der „absoluten“ Bedeutung von Wissen und Wirklichkeit distanzieren und die Bestimmung der Begriffe an die Philosophie abschieben. Sie wollen sich vor allem dem zuwenden, was der „Mann von der Straße“ unter Wissen und Wirklichkeit versteht. Dabei könne es verschiedene Arten von Wirklichkeit und Wissen geben: „Das ‘Wissen’ eines Kriminellen ist anders als das eines Kriminologen.“(S. 3) Daraus wird eine andere Wirklichkeit für die beiden geschlussfolgert. Ein großes Fragezeichen muss man auch hinter diese Aussage setzen: „Theoretische Gedanken, ‘Ideen’, Weltanschauungen, sind so wichtig nicht in der Gesellschaft.“(S. 16) Die gesamte These, die hinter dem Buch steht, lässt sich vielleicht an besten mit folgendem Zitat zusammenfassen: „Die anthropologischen Konstanten machen die sozio-kulturellen Schöpfungen des Menschen möglich und beschränken sie zugleich. Die jeweilige Eingenart, in der Menschenhaftigkeit sich ausprägt, wird umgekehrt aber bestimmt durch eben diese sozio-kulturellen Schöpfungen und gehört zu deren zahlreichen Varianten. So kann man zwar sagen: Der Mensch hat eine Natur. Treffender wäre jedoch: Der Mensch macht seine Natur – oder, noch einfacher: Der Mensch produziert sich selbst.“ (S. 51f)
Schade finde ich, dass sie ihren positivistischen Unterbau nicht begründen, sondern diese Aufgabe der Philosophie überlassen. Halten wir hier kurz inne. Für Berger und Luckmann gibt es außerhalb von uns eine objektive Realität, die jeder Mensch mit seinen Grenzen und Möglichkeiten entdecken, kennenlernen, sich zu eigen machen kann. Zugleich schafft aber jeder Mensch in Zusammenarbeit mit der Gesellschaft auch wiederum Realität. Das Buch zeigt hier ein dialektisches Miteinander, wobei die Gesellschaft, der Einzelne, die Institutionen, und so weiter gemeinsam diese Realität formen und sich gegenseitig auch beeinflussen. Doch die Frage, warum sie von dieser objektiven Realität ausgehen (was ich natürlich begrüße), wird der Philosophie überlassen. Und dann müssen wir natürlich auch sehen, dass Berger und Luckmann die Menschheit auf sich selbst zurückwerfen. Sie gehen davon aus, dass Gott nicht existiert – und versuchen dadurch, eine gottlose Realität zu schaffen. Vielleicht ist das Misslingen dieses Versuchs mit ein Grund, weshalb die Autoren sich um diese grundlegende Arbeit der Fundamentierung drücken. Festzuhalten ist aber, dass die Dialektik von Einzelnem und Gesellschaft zu kurz greift. Vielmehr müsste man von einer Trialektik aus Gott, Einzelnem und Gesellschaft sprechen, welche in einem spannenden und mitunter – ausgelöst durch den Sündenfall – auch spannungsreichen Miteinander resultiert. Gott stellt den Einzelnen in die Gesellschaft, damit dieser in der Gesellschaft Gottes Willen ausführt – und der Einzelne wird durch diese Gesellschaft wieder geprägt und auf Gott zurückgeworfen. Weil Gott uns und unsere Umwelt geschaffen hat, dürfen wir positivistisch von einer objektiven und erfassbaren Realität ausgehen, immer im Wissen darum, dass es auch Versuchung, Verführung und Verirrung gibt. Ich würde dies als einen christlichen kritischen Realismus bezeichnen.
Mit diesen Gedanken im Hinterkopf möchte ich nun auf einige Gedanken des Buches eingehen, die mich positiv herausgefordert haben, und die ich als zumindest teilweise sehr wertvoll empfinde. Nachfolgend ein paar Zitate, wenn nötig mit meinen Anmerkungen dazu.
Wenn das [das Auftauchen eines Problems] eintritt, macht die Alltagswelt zunächst Anstrengungen, den problematischen Teil in das, was unproblematisch ist, hereinzuholen.“ (S. 27) Vermutlich kennen wir das alle. Wenn wir feststellen, dass unser Computer keinen Zugriff aufs Internet hat, dann testen wir zuerst alle möglichen bisher bekannten Quellen eines Fehlers aus, bevor wir beim Service anrufen.
Sprache, ein System aus vokalen Zeichen, ist das wichtigste Zeichensystem der menschlichen Gesellschaft. Ihre Grundlage ist natürlich die dem menschlichen Organismus innewohnende Fähigkeit zu vokalem Ausdruck. Aber Sprache beginnt erst, wo der vokale Ausdruck vom unmittelbaren ‘Hier und Jetzt’ isolierter subjektiver Befindlichkeit ablösbar geworden ist.“ (S. 39)
Weil Sprache die Kraft hat, das ‘Hier und Jetzt’ zu transzendieren, überbrückt sie die verschiedenen Zonen der Alltagswelt und integriert sie zu einem sinnhaften Ganzen. Sie bewegt sich dabei in räumlichen, zeitlichen und gesellschaftlichen Dimensionen. Durch Sprache kann ich die Kluft zwischen der Zone meiner Handhabung und der des Anderen überbrücken. Ich kann die Sequenzen meiner Lebenszeit mit denen der Seinen abstimmen. Ich kann schließlich mit ihm über Individuen und Gruppen reden, mit denen wir keine Vis-à-vis-Interaktion haben. Weil Sprache das ‘Hier und Jetzt’ überspringen kann, ist sie fähig, eine Fülle von Phänomenen zu ‘vergegenwärtigen’, die räumlich, zeitlich und gesellschaftlich vom ‘Hier und Jetzt’ abwesend sind.“ (S. 41)
Sobald der einzelne Mensch über das Nacheinander seiner Erlebnisse nachdenkt, versucht er, ihren Sinn in einen biographischen Zusammenhang einzufügen.“ (S. 68)
Strategische Bedeutung für den Lebenslauf des Einzelnen hat die Legitimationsfunktion symbolischer Sinnwelten durch die ‘Ortsbestimmung’ des Todes. Die Erfahrung des Todes anderer Menschen und die daraus folgende Antizipation des eigenen Todes in der Phantasie ist für den Einzelnen die Grenzsituation par excellence. Dass der Tod auch die ärgste Bedrohung für die Gewissheit der Wirklichkeiten des Alltagslebens darstellt, braucht nicht eigens betont zu werden. Die Integration des Todes in die oberste Wirklichkeit des gesellschaftlichen Daseins ist deshalb für jede institutionale Ordnung von größter Wichtigkeit.“ (S. 108)
Zum Schluss noch interessante Zitate zur christlichen Theologie, die – mit notwendiger Vorsicht genossen – durchaus zum Nachdenken anregen können:
In der Geschichte war eine Irrlehre oft der erste Anstoß zur theoretischen Systematisierung symbolischer Sinnwelten. Die Ausbildung der christlichen Theologie als Folge häretischer Herausforderungen der ‘offiziellen’ Überlieferung ist ein Exempel dafür. Wie bei jeder Theorie erscheinen im Verlauf des Prozesses neue theoretische Möglichkeiten aus der Überlieferung selbst, die damit über ihre ursprüngliche Formulierung hinaus zu neuen Konzeptionen vordringt.“ (S. 115)
Wenn die Autoren in den nächsten zwei Zitaten von „Verwandlung“ sprechen, so ist damit gemeint, dass jemand aus einer „Realität“ in eine andere wechselt, also seinen Horizont erweitert und plötzlich die bisher angenommene Realität in Frage gestellt wird.
Ein ‘Rezept’ für erfolgreiche Verwandlungen muss sowohl gesellschaftliche als auch theoretische Bedingungen erfüllen, wobei die gesellschaftlichen selbstverständlich die Matrix für die theoretischen sind. Die wichtigste gesellschaftliche Bedingung ist das Vorhandensein einer überzeugenden Plausibilitätsstruktur, das heißt also einer gesellschaftlichen Grundlage, die das ‘Laboratorium’ für die Transformation sein kann. Diese Plausibilitätsstruktur muss dem Individuum durch signifikante Andere vermittelt werden, mit denen es zu einer tiefen Identifikation kommen muss. […] Die signifikanten Anderen sind die Führer in die neue Wirklichkeit.“ (S. 168)
Das historische Urbild der Verwandlung ist die religiöse Konversion. Unsere obigen Betrachtungen treffen auf sie zu, wenn es heißt: extra ecclesiam nulla salus [außerhalb der Kirche gibt es kein Heil]. Dabei interpretieren wir ‘Heil’ – mit angemessenen Verbeugungen vor den Theologen, die mit jenem Satz etwas anderes im Sinn hatten – als das erfolgreiche Zustandekommen der Konversion. […] Eine Konversion als Erlebnis bedeutet nicht allzu viel. Entscheidend ist, dass man dabei bleibt, dass man das Erlebnis ernst nimmt und sich den Sinn für seine Plausibilität erhält. Hier nun kommt die Gemeinde ins Spiel. Sie liefert die unerlässliche Plausibilitätsstruktur für die neue Wirklichkeit. Mit anderen Worten: Saulus mag in der Einsamkeit seiner religiösen Ekstase Paulus geworden sein. Paulus bleiben aber konnte er nur im Kreise der christlichen Gemeinde, die ihn als Paulus anerkannte und sein ‘neues Sein’, von dem er nun seine Identität herleitete, bestätigte.“ (S. 169)
Wie gesagt, mit viel Vorsicht zu genießen, aber auch mal darüber nachdenken, inwieweit die Aussagen innerhalb der biblischen Weltanschauung korrekt ist und was man für die Gemeinde davon lernen kann. Ich habe das Buch gerne gelesen und war erstaunt, dass es recht gut lesbar ist. Wer sich noch etwas mehr mit der Soziologie aus bibeltreuer Sicht befassen möchte, findet das Buch „Redeeming Sociology“ von Vern Sheridan Poythress hier als PDF kostenlos zum Download. Leider nur auf Englisch erhältlich.