Wo bleibt das Band der Liebe?

Nicht nur mir, auch einigen älteren, weiseren Freunden ist es immer wieder aufgefallen, wie sehr unsere Zeit unter Gespaltenheit und Lieblosigkeit leidet. Es scheint das Symptom des Zeitgeistes zu sein. Wohin man hört und sieht, überall ist Gleichgültigkeit bis hin zu offenem Hass zu finden. Es ist eine Zeit der Lautstärke, in welcher jeder versucht, alle zu übertönen, die ihm nicht zustimmen. Besonders deutlich wird das in den asozialen Medien, die sowieso schon von der „sichtbaren Lautstärke“ leben. Möglichst groß, krass, sichtbar, abwertend, etc. Ich möchte im Folgenden ein paar Überlegungen anstellen, wie es zu diesem Phänomen gekommen ist und welche weiteren Wege denkbar sind.
Es ist eigentlich ein sehr widersprüchliches Phänomen: Auf der einen Seite führt der Glaube an die grenzenlose Perfektibilität des Menschen, der vom „American Dream“ stammt, zum Denken, dass jeder sich selbst verbessern kann. Dies wiederum zeigt sich darin, dass der Mensch sich häufig als Maschine sieht – und entsprechend auch von der Wirtschaft so eingesetzt wird. Der Einzelne ist nur noch das schwächste Glied der Maschine; der Arbeiter will nur noch durchhalten, um nachher Freizeit zu haben, und dann wird die Freizeitgestaltung auch wieder nur von einer Freizeitmaschinerie und Konsumindustrie bestimmt.
Auf der anderen Seite regiert das Gefühl. Wo aber das Gefühl die Macht in den Händen hält, wird jeder Widerspruch gleich persönlich verstanden. Wenn mein Gefühl der King des Lebens ist und Du mir widersprichst, dann hast Du etwas gegen mich persönlich gesagt. So wird das empfunden. Und wenn das jemand so empfindet, dann fühlt man sich auch sofort berechtigt, die andere Person persönlich anzugreifen und fertigzumachen. Dass es da einen enormen Unterschied zwischen Person und Meinung gibt, nehmen viele Menschen nicht mehr wahr.
Der Einzelne, welcher sich persönlich angegriffen fühlt, sucht meist nicht den Kontakt, um sich darüber auszutauschen, warum die andere Person diese gegensätzliche Meinung vertreten hat, sondern zieht sich in sein Ghetto zurück, zu denen, die derselben Meinung sind wie sie selbst auch. Wie das online geschieht, habe ich hier (Link) geschrieben. Oft besteht das darin, dass man Menschen anderer Meinung aus der Freundesliste löscht oder „entfolgt“ (Twitter). Ich habe noch nie jemanden wegen seiner Sichtweise gelöscht, und habe auch nicht vor, das je zu tun. Warum? Weil ich mir der Gefahr des Ghettos und meiner menschlichen Schwäche bewusst bin und weiß, dass ich (und jeder andere auch) Widerstand, verschiedene Sichtweisen, Vielfalt brauche, um gesund wachsen zu können.
Angst ist ein schlechter Berater, und meist ist es Angst davor, angegriffen oder in Frage gestellt zu werden, was Menschen in ihre „Ghettos“ treibt. Wenn Menschen sich ihres Werts unsicher sind, suchen sie häufig nur Bestätigung unter ihresgleichen. Sie tun alles, um Kritik und anderen Meinungen auszuweichen, denn so richtig wohlig fühlt man sich in dem Fall nur unter Menschen, die die eigene Sicht teilen und loben. Wer sie nicht teilt, muss entweder unwissend oder voll Hass sein, so ist die Vorstellung in diesem Fall. Dass man auch mit demselben Hintergrundwissen zu ganz anderen Schlüssen oder zu anderen Präferenzen kommen kann, wird meist ausgeblendet.
Die exzessive Verwendung der neueren Medien spielt auch noch mit hinein. Sie sind nun keinesfalls für diese Entwicklung verantwortlich im Sinne von schuldig, aber sie erleichtern die Bildung von wohlig-kuschligen Ghettos Gleichgesinnter und zugleich das technische Blockieren aller anderen Sichtweisen. Wer im Supermarkt einkaufen geht, wird unter den übrigen Kunden bestimmt eine Vielzahl von Sichtweisen treffen können, doch wer nur mit sich selbst beschäftigt ist und mit dem eigenen „Ghetto“, wird unfähig, sich auf diese anderen Meinungen einzulassen, sie mal zu überdenken und von ihnen profitieren zu versuchen. Darüber habe ich übrigens hier (Link) geschrieben. In den asozialen Medien hat jeder selbst die Verantwortung, sich seine Kontakte zu wählen, und viele Menschen suchen sich bewusst gleichdenkende Kontakte aus. Das führt wieder zu dieser digitalen Art von „Gated Communities“.
Im Folgenden eine Reihe von Fragen, die mir helfen (zumindest hoffe ich das), nicht nur mit den neuen Medien, sondern grundsätzlich auch mit mir entgegengesetzten Meinungen umzugehen und das alles überwinden könnende Band der Liebe aufrecht zu erhalten:
  • Wie fühle ich mich, wenn mir jemand widerspricht? Kann ich meine Sicht von meiner Persönlichkeit von meiner Meinung trennen oder fühle ich mich dann angegriffen?
  • Was mache ich, wenn mir jemand widerspricht, reflexartig als Erstes? Bete ich für diese Person, die mir widerspricht? Bete ich dafür, die Wahrheit zu erfahren?
  • Wie gut kann ich damit umgehen, eine Woche lang online nicht erreichbar zu sein? Fühle ich mich dadurch abgewertet oder habe ich Angst, etwas Wichtiges zu verpassen?
  • Wie geht es mir, wenn ich fünf Minuten lang nur still bin, ohne über etwas nachzudenken und ohne Ablenkung?
  • Wann habe ich zuletzt ein Buch gelesen, dem ich in den allermeisten Punkten widersprechen musste? Was habe ich dennoch davon mitnehmen können?
  • Wie sehe ich Menschen, die anderer Meinung sind? Kann ich sie als vollwertige Geschöpfe Gottes erkennen und eine ganze Menge über unseren Schöpfer von ihnen lernen?
  • Wie geht es mir, wenn ein Hype oder Shitstorm viral wird? Lasse ich mich davon mitreißen? Mache ich mit, wenn es nur darum geht, jemanden fertigzumachen?
  • Wann habe ich Gott zuletzt dafür DANKE gesagt, dass Menschen so verschieden sind und mir dadurch auch helfen, die Wahrheit noch besser zu verstehen?
  • Bete ich regelmäßig für die Menschen, die anderer Meinung sind und segne sie, statt (nur) Gott zu bitten, ihre Meinung zu ändern?
  • Was finde ich in der Bibel für Hinweise, die mir helfen, meine Gottes- und Nächstenliebe am Brennen zu erhalten?

Wert-lose Gesellschaft

Was ist ein Wert? Wert hat etwas mit Seltenheit und Kostbarkeit zu tun. Wenn ich eine Arbeit erledige, die nur 100 andere Personen erledigen können, so ist sie wertvoller, als wenn es 10 Millionen gibt, welche dieselbe tun können. Oder wenn sie viel Vorarbeit braucht, so ist sie auch wertvoller, als wenn sie keine solche benötigt.
Es waren die Werte der christlichen Weltanschauung, welche die abendländische Kultur für viele Jahrhunderte geprägt haben. Dabei kann man nicht vom „christlichen Abendland“ sprechen, sondern lediglich vom mit christlichen Werten durchsetzten Abendland. Im Zuge der Aufklärung wurde versucht, diese Werte ohne Christentum zu propagieren. Spätestens Friedrich Nietzsche hat gezeigt, dass dies nicht möglich ist. Wenn man wie er schon kein Christentum wollte, dann müsse man auch auf all diese Werte verzichten. So versuchte er gegen Ende seines Lebens alle möglichen Werte zu durchdenken und auf eine neue Basis zu stellen, die sich an der griechischen Antike und nicht am „orientalischen“ Christentum orientierten. Erschienen ist dieses Werk nie; nach seinem Tod wurden die unfertigen Notizen dazu durchgesehen und veröffentlicht.
Nietzsche war ein einsamer Rufer in einer überaus optimistischen Zeit. Das christliche Weltbild hat eine Grundlage geschaffen, welche seit dem Zeitalter des Humanismus zu immer neuen Entdeckungen, Forschungen und Erfindungen führte. Die Industrialisierung war zu Nietzsches Zeiten weit vorangeschritten, der Mensch glaubte, keine Grenzen zu haben. Dieser Optimismus führte so weit, dass man dachte, man brauche in dieser Zeit der Vernunft keinen Krieg mehr zu fürchten. Und dann brach er doch herein, verwüstete viele Landstriche und führte zur Verzweiflung.
Die Zeit der Weimarer Republik war zunächst eine Zeit der Erholung, doch schon bald kam der nächste Schock: Sanktionen, Weltwirtschaftskrisen, Arbeitslosigkeit, und dazu eine Regierung, die alledem nicht gewachsen war. Der Ruf nach einem „starken Mann“, der den Karren aus dem Dreck zieht, wurde laut. Wohin das führte, wissen wir alle.
In den Jahren nach dem 2. Weltkrieg wurde es immer stiller um die Werte. Im Kino gab es nicht mehr den Helden, sondern den Anti-Helden. Man könnte regelrecht von einer Angst vor Werten, Tugenden und Helden sprechen. Es durfte nur noch schlechte Vorbilder geben, von denen man sagen konnte: Hauptsache anders als die! Egal wie, nur anders als die vor uns!
An die Stelle von Werten, Tugenden und Helden sind Diskurse, Gleichgültigkeit und Waschlappen getreten. Hauptsache man redet miteinander. Hauptsache wir haben uns alle lieb. Hauptsache wir legen uns nicht mehr fest. Wenn alles gleich gültig ist, dann ist auch alles gleichgültig. Weil es keine Wahrheit gibt oder niemand diese wirklich erfahren kann, sind wir zu einer wertlosen Wegwerf-Gesellschaft geworden.
Und dann geschehen Dinge, die uns plötzlich doch wieder überzeugen, dass es gut und böse, richtig und falsch, wahr und unwahr gibt und dass es möglich sein muss, dies zu unterscheiden.
Wie können wir in dieser Zeit leben? Wie können wir unserer nächsten Generation wieder echte Werte und Tugenden mitgeben? Wie können wir ihr zu Vorbildern und Helden werden?